Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
den Samen Ihrer persönlichen Engherzigkeit weit und breit ausstreuen werden. Ich danke Gott, daß ich nicht Ihr Generationsgenosse bin.«
Plageot zitterte. Sein Mund arbeitete ausdruckslos, seine Augen blickten starr. »Wovon, zum Teufel, reden Sie?« schrie er.
»Warum habe ich mich diesen komischen Typen gegenüber so zivilisiert verhalten? Weil ich glücklich bin. Und der Glückliche ist großzügig. Er möchte andere teilhaben lassen an seinem Geheimnis. Ich bin seit einundvierzig Jahren verheiratet, und nie fiel ein hartes Wort zwischen meiner Frau und mir. Wir hatten Humor und Nachgiebigkeit. Ich wußte, ich würde nie bis zur Spitze aufsteigen, und ich war versöhnt mit meiner Mittelmäßigkeit. Ich konnte sogar bei passender Gelegenheit darüber witzeln. Unsere Töchter sind nicht besonders hübsch. Sie haben das Gesicht meiner Frau und meine Figur. Folglich haben sie Männer gefunden, die sie wegen ganz anderer, feinerer Eigenschaften heirateten, und sie sind alle ebenso glücklich wie wir. Als meine Frau voriges Jahr unser Auto gegen einen Baum lenkte, begrüßte ich die Gelegenheit, wieder zu Fuß zu gehen. Bei jedem Mißgeschick gibt es irgendeinen Vorteil.«
»Was hat das alles mit mir zu tun? Oder mit der rationellen Führung der Behörde?«
»Alles«, sagte Latille. »Sie sind ein ganz und gar erbärmlicher Charakter. Ihr Humor ist sarkastisch, als wären alle Ihre Gedanken im Filter Ihrer Seele ranzig geworden. Als Abteilungsleiter mit Anfang Vierzig gelten Sie als einer der verheißungsvollsten Männer bei der Polizei, und es steht zu erwarten, daß Sie zumindest als Präfekt von Lyon oder Marseille enden werden, um das Leben dort mit Ihren trostlosen, kleinlichen, schikanösen Entscheidungen unerträglich zu machen. Oder Sie enden als Gouverneur in einer unserer kleineren Kolonien, wo Sie die Einheimischen verwirren und sich die Zeit vertreiben werden, indem Sie tagtäglich die Verkehrsregeln ändern. Ich kenne Ihre Sorte.
Das Leben ist ein Dossier, die Erinnerung ist eine Polizeiakte, der Ehrgeiz ist eine Dienstmarke, die Liebe ist eine Vorschrift. Sie sind Junggeselle. Warum? Weil Sie selbstsüchtig sind. Sie brauchen die Frauen mehr, als daß sie Ihnen gefielen, und sie gefallen Ihnen mehr, als daß Sie sie liebten, und Sie lieben sie mehr, als daß sie eine von ihnen lieben könnten. Im Augenblick leben Sie mit einer zweitklassigen Schauspielerin zusammen. Und abermals – warum? Weil Sie einen Dienstgrad erreicht haben, wo es angemessen erscheint, mit einer zweitklassigen Schauspielerin zusammenzuleben. Niemals gehen Sie ein geistiges Risiko ein. Sie sind tot. Sie sehen das, was Sie sehen wollen, fühlen das, was Sie fühlen wollen, und Ihr Charme reicht so tief wie Ihr Eau de Cologne. Gestatten Sie, ich sage dies nur, weil ich Sie mag. Anders als diese unglücklichen Nihilisten sind Sie noch besserungsfähig. Wir können noch einen Menschen aus Ihnen machen.«
Genau in diesem Moment trat Madame Latille ein. Sie war von überraschender Häßlichkeit, aber ihr Lächeln strahlte Fröhlichkeit und Wärme aus. »Jules«, tadelte sie, »du hast unserem Gast nicht mal ein Glas Portwein angeboten.« Plageot, ernüchtert durch die Anwesenheit einer Dame, sagte: »Bedaure sehr, Latille, aber ich werde eine gründliche Untersuchung Ihrer Vorgehensweise beantragen müssen und diesen Fall vor den Präfekten bringen.«
Latille zuckte die Schultern und grinste traurig. »Tun Sie, was Sie wollen, aber seien Sie nicht überrascht, wenn der Imam in die Luft gesprengt wird, während Sie sich mit Ihren Strafmaßnahmen beschäftigen, und die arabische Welt sich zur Rache gegen uns erhebt, nur weil Sie sich um wichtigere Dinge zu kümmern hatten.«
Plageot stürmte hinaus und stürzte sich in eine höchst unglückliche Geburtstagsfeier mit seiner Geliebten. Annik tat ihr Bestes, um ihren Liebhaber aufzuheitern, aber jetzt sah er nur noch die zweitklassige Schauspielerin in ihr. Er zankte mit dem Kellner um die Rechnung, der Besitzer mußte gerufen werden, das Auto wollte nicht anspringen, und als sie in seiner Wohnung anlangten, war eine Sicherung durchgeknallt. Annik zog einen kurzen, durchsichtigen schwarzen Pyjama an und lag, Verlangen ausstrahlend, auf ihrem rosa Laken, er aber hockte grimmig auf einem Stuhl und starrte die Wand an.
Plötzlich rief er die Sûreté an. »Inspektor Breval«, sagte er, »haben Sie heute Nachtdienst? Hier spricht Plageot. Eloignement. Da sind sechs Leute, die ich verfolgt
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