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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Ustinov
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schon etwas mehr als Herr der Lage. Plageot war unverheiratet, aber er hatte eine Geliebte, die ebensogut seine Frau hätte sein können, denn er war ihr nicht völlig treu. Dies war zufällig ihr Geburtstag. Er rief sie an. »Annik«, sagte er mit seiner autoritärsten Stimme, »ich verspäte mich eine Dreiviertelstunde. Was höre ich? Du bist fertig angezogen zum Ausgehen? Um so besser, dann wirst du mich nicht warten lassen, wenn ich komme.« Er setzte seinen flotten schwarzen Hut auf und verließ für diesen Tag das Büro.
    »Mein lieber Plageot«, sagte Monsieur Latille beim Eintreten in sein bescheidenes Wohnzimmer, »bitte entschuldigen Sie die Unordnung. Aber wir fahren morgen früh nach Dinard.« Er war eine malerische Erscheinung, dieser Latille, mit seiner wilden grauen Mähne, seinem schütteren Spitzbärtchen und seinen wäßrig-blauen Augen, dem Äußeren nach mehr ein Künstler als ein Beamter. Plageot, so korrekt, so dogmatisch, so rasiermesserscharf, fühlte sich unbeholfen in Gegenwart solcher Ungezwungenheit.
    »Mir ist klar, Sie sind sehr beschäftigt. Ich kann ohnehin nur einen Moment bleiben, darum will ich gleich zur Sache kommen. Es geht um einen gewissen Zvoinitch.« Monsieur Latille verlor seine Herzlichkeit und setzte sich schwerfällig.
    »Ja«, sagte er, »ich habe befürchtet, Sie würden mich nach ihm fragen. Als ich heute früh die Zeitung aufschlug und sah, daß der Imam von Hidschas morgen kommt, war mir der ganze Tag verdorben. Ich regte mich auf und rechnete mit dem Schlimmsten. Ich hoffte nur, noch wegzukommen, bevor der Sturm losbrach.«
    Auch Plageot setzte sich. »Aber wo liegt das Geheimnis?« fragte er. »Entweder ist der Bursche gefährlich, oder er ist es nicht. Es müßte doch relativ einfach sein, diese Frage zu entscheiden.«
    »Es ist alles andere als einfach«, sagte Latille betrübt. »Im Moment fühle ich mich wie der Chefkassierer einer Bank, dem alle vertrauen und der plötzlich bei der Veruntreuung von Millionen Franc ertappt wird.«
    »Warum kommen Sie sich so vor?« fragte Plageot in gewichtigem Ton.
    »Weil – weil ich mir nie schlüssig werden konnte, ob diese überalterten Revolutionäre gefährlich sind oder nicht. Schließlich konnte ich die Ungewißheit nicht mehr ertragen und entschied im Zweifel zu ihren Gunsten.«
    »Wollen Sie damit sagen, Sie gaben ihrer Forderung nach und schickten sie nach Korsika – ohne ersichtlichen Grund?«
    »Genau.«
    Plageots Haltung wurde steif und selbstgerecht. »Ist Ihnen klar, Latille, daß Sie für solche Marotten das Geld des Steuerzahlers ausgegeben haben?«
    »Natürlich ist mir das klar, mein lieber Freund. Auch wenn ich nicht behaupten kann, daß es mir viel Kopfzerbrechen bereitet hätte. Das Endergebnis ist bei den meisten Steuergeldern weit weniger nützlich und weniger wohltätig. Denken Sie an die Summe, die in die Maginotlinie gesteckt wurde. Und wieviel Gutes hat sie gebracht?«
    »Wenn jeder dächte wie Sie, dann hätten wir das Chaos!«
    »Chaos entsteht in jedem Fall, mein lieber Plageot. Nicht weil alle so denken wie ich, sondern weil die Menschen verschieden denken. Wie Voltaire weise sagte, sollte jeder von uns seinen eigenen Garten bestellen. Zwei Teile gesunden Menschenverstands, gegeneinandergestellt, können leicht zum Chaos führen. Dagegen können wir nichts tun. Wir können nur unser eigenes Haus in Ordnung halten.« Plageot sprang auf und durchmaß das Zimmer in großer Erregung.
    »Ich bin nicht gekommen, um mich auf metaphysische Debatten einzulassen.«
    »Nein«, sagte Latille nachsichtig. »Sie sind gekommen, um zu fragen, ob sechs alte Attentäter gefährlich sind oder nicht. Ich gebe Ihnen meine Antwort. Ich weiß es nicht.«
    »Sie überraschen mich, Latille, und Sie schockieren mich. Jetzt verstehe ich, warum Zvoinitch mir sagte, er habe ein sehr angenehmes Arbeitsverhältnis mit Ihnen gehabt.« Latille lächelte. »Sagte er das? Das war sehr freundlich von ihm, wenn auch ein wenig taktlos, nachdem er sich noch gar kein Urteil über Sie bilden konnte.«
    Plageot blieb wie angewurzelt stehen. »Was wollen Sie damit sagen?« platzte er heraus. »Suchen Sie jetzt Ihre Handlungsweise zu rechtfertigen?«
    »Ich glaube, sie bedarf keiner Rechtfertigung. Bis gestern war Ihre Abteilung meine Abteilung. Ich habe sie acht Jahre geleitet, und ich bedaure meine Entscheidung hinsichtlich dieser Männer nicht. Ich fürchtete lediglich den Tag, an dem ich mein Verhalten erklären müßte. Es gibt

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