Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
die ihm zu Hause in Dayton, Ohio, verkauft worden waren, und ein Büchlein voll Hundert nützlichen Wendungen Italienisch durchblätternd, ohne einen sagbaren Satz zu finden, der seiner Stimmung entsprochen hätte. »Bahn fahren, um Zeit zu sparen«, sagte er ohne Gewißheit, daß irgend jemand ihn verstehen würde, »und du landest direkt mitten in einem Streik. Schätze, man kann nicht gewinnen.«
Der Hund der Herzogin, als er einen Mann mit ungewohntem Timbre in der Stimme sprechen hörte, stellte zwei Ohren auf, beinah so groß wie er selbst, neigte den Kopf zur Seite, fing an, wie ein Epileptiker zu zittern, und bellte. Der Amerikaner reagierte wie alle anderen und sah die Herzogin an, dann erblickte er den Hund.
»Hallo, Kerlchen«, sagte er und streckte eine liebevolle Hand aus, mit einem riesigen Verbindungsring am vierten Finger. Der Hund, der eine große, fünfzackige Waffe gegen sich vorrücken sah, verziert mit einer goldenen, von einem roten Stein und kabbalistischen Runen geschmückten Kugel, bekam einen trotzigen Wutanfall. Er mochte klein sein, aber er hatte dennoch den Instinkt eines Hundes, und zwar eines bissigen Hundes. Jetzt setzte er sich zur Wehr und verteidigte seine Herrin. Die Herzogin legte ihm eine blaugeäderte Hand über die Augen, und da seine Welt unverhofft in Dunkelheit versank, schniefte er kurz vor frustrierter Blutgier und schlief binnen Sekunden ein, seine Träume voll von Gewalt und ungezügeltem Haß.
»Tut mir leid«, sagte der Amerikaner verwirrt. »Was ist das? Ich dachte, es sei ein Chihuahua, aber dafür scheint er zu klein.«
Die Herzogin starrte ihn mit unverhülltem Abscheu an. »Jedenfalls süß. Nur schwierig, nicht draufzutreten, würde ich meinen.«
Die Herzogin trat in ihr Abteil und schloß die Tür. Der Amerikaner, der sich geschnitten fühlte, schaute den Priester an, der unglücklich von irgendwo aus dem Mittelalter zurückstarrte, das Weiße seiner Augen beinah so dunkel wie die Pupillen. Selbst das Lächeln der Nonne zeigte eine Spur von Tadel. Verwirrt, ins Unrecht gesetzt und mißverstanden, zog sich der Amerikaner in sein Abteil zurück. Ich sah den Priester an und versuchte nicht, meine Mißbilligung zu verbergen. Plötzlich lächelte er zurück. Sein Ausdruck war schockierend freundlich und offen. Es war mir unmöglich, nicht darauf einzugehen.
»Hoffen wir, daß wir alle rechtzeitig unser Ziel erreichen«, sagte er achselzuckend. »Eisenbahnen und Autos und Flugzeuge haben uns träge gemacht – sie haben uns Hoffnung geschenkt und uns nachlässig gemacht. Dank ihnen verschieben wir alles auf den letzten Moment. Vor tausend Jahren wären wir zu Pferde aufgebrochen, mit genügend Zeit in Reserve.«
»Damals gab es keine Streiks«, sagte ich. »Oh, es gab Schlimmeres als Streiks. Ich kann es den Eisenbahnern nicht verübeln, daß sie ihre Klagen zum Ausdruck bringen.«
»Es ist alles eine Frage der Verständigung«, antwortete ich. Der Gesichtsausdruck des Priesters, den der Amerikaner als vorwurfsvoll aufgefaßt hatte, war in Wirklichkeit nur Geistesabwesenheit. Wahrscheinlich hatte er den Hund nicht mal bellen hören. Was die Herzogin betrifft: Wäre der Amerikaner schamlos galant gewesen und hätte er ihr ein paar nichtssagende Komplimente gemacht, statt seine Munterkeit an den Hund zu verschwenden, so hätte sie diesem wahrscheinlich einen tüchtigen Klaps versetzt, wegen der Störung im unrechten Augenblick. Wenn das Leben schon in seinen unbedeutenden Augenblicken schwierig war, um wieviel schwieriger war es in Augenblicken von Bedeutung. Die Nonne hatte wahrscheinlich recht, jeden Kontakt zu meiden, außer mit den Wandgemälden, den Kruzifixen, den kühlen Korridoren ihrer Phantasie, einer statischen Welt ohne Überraschungen. Und dennoch, war dies nicht eine Form von Verzicht, von Selbstgenügsamkeit auf Kosten des Lebens?
Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war neun Uhr zwölf. Der Zug stand immer noch im Bahnhof. Ich löste das Rouleau, das hochschnellte, und kurbelte das Fenster herunter. Der Schaffner war allein. »Wie sieht’s jetzt aus?« rief ich ihm zu. Er lächelte grimmig. »Hätten Sie mich vor fünf Minuten gefragt, dann hätte ich gesagt: schlimmer. Jetzt weiß ich nicht recht.«
Der Zug ruckte und begann loszukriechen. »Florenz jedenfalls werden wir erreichen«, rief der Schaffner und richtete sich mit der Eleganz eines Menschen auf, der es gewohnt ist, aufrollende Gegenstände zu springen. »Und von dort an – beh!«
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