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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Ustinov
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Er schnitt eine Grimasse und schwang sich auf den Zug.
    Ich versuchte zu lesen, jetzt, da ich allein war. Die Nonne, so vermutete ich, fühlte sich in der Eisenbahn ganz zu Hause, denn ich stellte mir das klösterliche Leben ähnlich vor wie die Existenz in einem Schlafwagen, die gleiche embryonale Wärme und Intimität, die Isolation, das Gefühl, in den eigenen Gedanken umherzuschweifen. Wenn ich ein Mönch wäre, hätte ich nur die eine Angst, in eine große Zelle eingewiesen zu werden. Das wäre das Schlimmste von beiden Welten. Nebenan bellte das Hündchen. »Halt’s Maul«, sagte ich laut, aber nicht so laut, daß die Herzogin es hören konnte. Ich legte mein Buch weg und schlief ein.
    Als ich aufwachte, bewegte sich der Zug nicht mehr. Ich sah auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht. Der Streik hatte angefangen. Ich vernahm Stimmen, nicht nur die üblichen Stimmen eines Bahnhofs. Jemand hielt eine Rede. Es gab Zwischenrufe.
    Ich spähte durch das Rouleau. Es war wie eine Szene aus einem frühen sowjetischen Film. Fast konnte ich den schmetternden Soundtrack hören, der solch eine Sequenz begleiten würde, hauptsächlich Blechbläser, einen Halbton zu flach aus technischen Gründen, aber auch mit der Bürde einer epischen Trauer. Die Eisenbahnarbeiter waren auf dem Bahnsteig versammelt. Es war kalt. Immer wenn einer von ihnen sprach, explodierte sein Atemhauch in das Mitternachtsblau. Die Beleuchtung war eisig, unfreundlich. Sie ließ alle hungrig aussehen. Papier lag auf dem Bahnsteig. Ein Rollwagen mit Erfrischungen stand verlassen da – seit Punkt zwölf Uhr, stellte ich mir vor. Bauchige Chiantiflaschen, Schokoladenriegel, alle vier Räder in verschiedene Richtungen gedreht. »Ragazzi!« sagte der Sprecher. »Auf Anordnung des Zentralkomitees der – « Es war schwer zu verstehen; der Inhalt solcher Ansprachen ist immer ziemlich vorhersagbar. Wie würdig der Anlaß auch sei, revolutionäre Resolutionen verlieren stets ihren Schwung in einem Nebel sinnloser, vorhersagbarer Rhetorik. Wem so etwas gefällt, der mag es aushalten. Ich sah nicht mehr hin, hörte nur noch zu. Anfangs gab es sehr wenig Widerspruch, nur vereinzelte Rufe. Dann setzte eine neue Stimme sich durch, eine Stimme, die ich rasch als die unseres Schlafwagenschaffners erkannte. Er sprach mit einer gewissen – mangels eines besseren Wortes möchte ich sagen – Würde. Da gab es kein Bemühen um großes Pathos; er erlag keiner der Versuchungen, die das Italienische für jene bereithält, die mit einer allzu klangvollen Stimme oder einer allzu barocken Phantasie begabt sind. Er sprach einfach, wie ein Ausländer, und vielleicht weil er sich wie ein Ausländer anhörte, hörten sie ihm zu.
    Der Streik, behauptete er, sei darauf angelegt, als Schikane zu wirken. Er sei auch sorgfältig so geplant, daß er nichts anderes bewirken könne. Auch könnten die Gewerkschaften, in ihrer gegenwärtigen Struktur, nie darauf hoffen, irgend etwas besser zu organisieren. Er verglich den Wert der Aktion mit dem Treiben von Straßenjungen, die auf Türklingeln drücken und dann wegrennen. Er stellte der Versammlung eine rhetorische Frage: War dies eine würdige Beschäftigung für Familienväter?
    Er erinnerte die Zuhörenden daran, daß die Italiener stets eifersüchtig auf fremde Laster und nachlässig mit ihren eigenen Tugenden wären. »Warum sollten wir uns schämen oder schwach fühlen, weil wir eine gastfreundliche Nation sind? Manche von uns wünschen sich, wir wären in Rußland. Manche von uns sind in Rußland gewesen und sind jetzt froh, hier zu sein. Ich wäre lieber hungrig in Italien«, erklärte er am Schluß unumwunden, »als vollgestopft mit Buchweizen in einem mir vorgeschriebenen Paradies!« Es gab Applaus, weniger für den Inhalt als für die Darbietung.
    Eine Art Abstimmung fand statt, und nach fünf Minuten rollte der Zug zögerlich aus dem Bahnhof. Ich zog meinen Morgenrock an und ging hinaus, um dem Schaffner zu gratulieren.
    »Meinen Sie das im Ernst, was Sie sagten?« fragte ich ihn. »Nein.« Oh, er war absolut ehrlich.
    »Meine Pflicht ist es«, sagte er, »den Zug aus Italien hinauszubringen. Dafür werde ich bezahlt. Ich mag mit meinem Lohn unzufrieden sein, aber jetzt, mit einem Zug voller Reisender, ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
    »Und waren Sie während des Krieges in Rußland?«
    »Nein«, antwortete er ausdruckslos. »Aber ich habe nicht gelogen. Ich sagte nicht, ich wäre dort gewesen. Ich sagte nur, einige von uns

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