Gott wuerfelt doch 1
erklären
gehabt hätte, wäre nicht zu erklären.
Ich erschrak, als
sie jetzt vor mir stand, ausgemergelt und von Nahrungsverweigerung gezeichnet.
Meine Mutter sah um einige Jahre älter aus. Ihre Augen standen weit aus den
Augenhöhlen hervor, ihre sonst rosigen Wangen waren eingefallen, der Kopf hing
ein paar Zentimeter tiefer als früher. Als ich vor ihr stand, sah sie mich an
wie ein großes Unheil, das auf sie zukäme. Sie sprach leise meinen Namen und
umarmte mich. „Komm herein, mein Junge“, sagte sie, ohne mich zu fragen, wo ich
gewesen war. Sie und ich waren einfach da.
Ich sehnte mich
danach, von ihr mit Vorwürfen überladen zu werden. Sie jedoch saß nur da, sah
mich an und schwieg. Endlich fragte sie in einem seltsam weichen, aber
bestimmten Tonfall: „Wo warst Du, Walter?“ Doch ich konnte nicht antworten.
Dann sprang sie auf
und eilte zum Telefon, als habe sie etwas Wichtiges vergessen. Sie musste nicht
lange warten und sagte beinahe emotionslos in den Hörer: „Er ist wieder da“,
wobei sie mich starr ansah. Dann legte sie ruhig auf und kam zu mir zurück.
„Bist Du in
Schwierigkeiten?“, fragte sie vorsichtig.
Ich hatte noch
immer keine Antwort und spürte zum ersten Mal seit langer Zeit eine bohrende
Verlegenheit in mir. „Ich wollte einfach mal weg“, sagte ich lakonisch. Mir war
klar, dass eine solche Antwort in unserer Familie niemals geduldet würde.
„So?“, bemerkte
meine Mutter mit hochgezogener Braue, halb vorwurfsvoll, halb enttäuscht, und
ich kam mir zu Recht fürchterlich dumm vor.
„Ja!“, sagte ich
gereizt, stand auf und wand mich davon, das Gesicht zum Fenster.
„Junge, was ist los
mit Dir?“ Sie stand jetzt hinter mir und legte ihre Hand auf meine Schulter.
Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich ihre Nähe als unangenehm, so stark,
dass mir das Blut zu wallen begann, mich nervös machte und ich es als
unerträglich empfand, meine Mutter auch nur anzusehen.
Ich schüttelte sie
ab und zischte: „Lass mich!“ Ich hatte das Gefühl, mein Kopf hielte dem Druck
nicht mehr Stand und machte einen schnellen Schritt zur Seite. In diesem Moment
war mir klar, dass es zwischen mir und meinen Eltern nie wieder so sein würde,
wie es einmal gewesen war.
Als mein Vater
nachhause kam, war zwischen meiner Mutter und mir ein handfester Streit
entbrannt. Ich hatte es geschafft: Sie beschimpfte mich, und das war mir
wesentlich angenehmer. Doch statt ihr zu antworten, schwieg ich und ließ sie
zappeln.
Mein Vater ging zu
ihr hin und fasste sie bei den Schultern, um sie zu beruhigen, doch sie schrie
weiter und trommelte auf ihn ein, dann sank sie in sich zusammen und flüsterte
leise: „Ich kann nicht mehr.“ Mein Vater sah mich vorwurfsvoll an und setzte
sie auf einen der weichen Sessel.
„Was ist hier
los?“, fragte er mich scharf. „Was hast Du ihr getan?“, sah er mich
eindringlich an.
„Nichts“, gab ich
zur Antwort. „Nichts!“ Ich wandte mich ab und ging erneut zum Fenster.
*
Die nächste Zeit
verbrachte ich in Angst. Ich fühlte mich ständig missverstanden und verfolgt,
zog mich völlig zurück. Ich entwickelte immer mehr Furcht, entdeckt zu werden.
Von meinen Eltern, dass sie erkennen würden, was geschehen war, von der Stasi,
dass sie erkennen würden, dass ich nicht mein Bruder war, sondern ich selbst.
Konrad hatte mir, wie er geschrieben hatte, alles Nötige beigebracht. Aber war
das wirklich so? Hatte er nicht irgendwelche Angewohnheiten, die ich nicht
nachvollziehen konnte, und deren Fehlen mich deshalb entlarven würde? Bei dem
Gedanken an meine Freunde bekam ich Panik. Ich hatte zwar nie viele Freunde
gehabt, aber Konrad hätte sie meiden müssen! Ich musste alle Kontakte zu ihnen
abbrechen. Wenn nicht, würde es der Stasi auffallen.
Um meine Angst in
erträglichen Dimensionen zu halten, versuchte ich, normale Dinge zu tun. Ich
ließ mich in Vorlesungen blicken, sprach jedoch nur das Nötigste; zunehmend
empfand meine Umwelt mich verschroben und kauzig; ich wurde zunehmend
unglücklicher. Mein Kopf war nicht klar. Ich begann zu trinken. Früher war es
ein guter Wein gewesen, der mich stets in Hochstimmung versetzen konnte. Mit
Freunden oder Anna genossen, hatte dieser Genuss mir Glück über das Leben und
Freude am Gespräch beschert. Jetzt aber war es der Alkohol als Droge, der mir
medizinisch betrachtet den Kopf vor den quälenden Gedanken freihielt. Ich wurde
unausstehlich, ich trank billigen Wein und tat es absichtlich, denn guten
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