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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Kreutzer
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Ich wusste
im nächsten Moment, dass es nicht stimmte, dass er nicht anders konnte, dass
diese Verbrüderung an größeren Dingen gemessen werden müsste. Meine Hände
stützten meinen Kopf, mein Leib versagte seinen Dienst, und ich erbrach.
    Als ich erwachte,
hörte ich Poltern, Rufen und Klopfen an der Tür. Ich wusch den Gestank der
Verzweiflung, der meinen Magen verlassen hatte, vom Boden auf, spülte meinen
Mund, ordnete meine Haare im Spiegel und öffnete. Eine besorgte Stewardess war
sichtlich erleichtert, als sie mich sah. Hinter ihr stand eine Reihe
verärgerter Menschen. Der erste in der Reihe, ein kräftiger junger Mann mit
gebräuntem Gesicht und langen Haaren, drängte sich ein wenig rüde an der
Stewardess und an mir vorbei und rümpfte die Nase.
    Ich ging zurück zu
meinem Sitz, entschuldigte mich bei der älteren Dame und setzte mich erneut an
das schmale Fenster. Die Stewardess brachte mir unaufgefordert und diskret ein
Glas Wasser, das ich diesmal dankend annahm.
    Draußen war es
stahlblau, und unter uns waberte ein Meer von wattigen Wassertropfen. Oben
strahlte die Sonne und streute ihre gleißenden Perlen aus weißem Licht über uns
aus. Ich sah am anderen Ende des Himmels ein Flugzeug. Es mochte wohl dorthin
fliegen, wo ich am liebsten hin wollte, nämlich in irgendeine andere Richtung.
    Ich fühlte mich
besser, obwohl die Sorgen um meine Zukunft blieben. Die große Angst aber war
irgendwie eingekapselt. Die Situation war mir klarer als zuvor, und ich wusste,
dass es zum Teil an meinem Geschick liegen würde, zum anderen aber waren viele
Faktoren für mich nicht berechenbar. Ich betete, dass mir alles gelingen würde,
so wie Konrad es ausgearbeitet hatte.
    Bald würde die
Maschine landen, und ich würde wieder Zuhause sein. Ich wusste damals, ich
wollte mich der Zukunft stellen, so wie meine Eltern es mir beigebracht hatten.
Aber dass sich alles so entwickeln würde, wie ich es schließlich erleben
musste, damit hatte ich nicht rechnen können; niemand auf der Welt hätte damit
rechnen können.
    *
    Der Airbus flog in
einer großen Schleife über das Sauerland, und von oben konnte ich einige
Talsperren erkennen. Das Wetter war weder gut noch bedrohlich. Es passte zu
meiner Stimmung.
    Vor dem Flughafen
bestieg ich einen dieser kleinen Transferbusse, die von Düsseldorf über die
Autobahn auf dem schnellsten Weg nach Aachen fuhren. Durch das Land der Rüben
und Äcker, vorbei an den Tagebauen der Braunkohle, unvorstellbar riesigen
Löchern, mehrere hundert Meter tief. Ich hatte die hochhausgroßen
Schaufelradbagger, diese Ungetüme aus Stahl, und die Löcher, die sie rissen,
stets als bedrohliche Fremdkörper und unheilbare  Narben in der Landschaft
empfunden; jetzt aber sahen meine Augen diese steilen Gruben aus braunen und
gelben Farben wie eine erfrischende Erlösung, da sie in der Lage waren, dieser
topographischen Einöde aus dem geradlinig gezogenen Horizont, Rübenblättern und
Monokultur die quälende Langeweile zu nehmen.
    Ich entstieg dem
Bus in Aachen wie ein Landstreicher – geknickt, verwahrlost und ohne Mut. Das
erste, was mich drängte war, meine Eltern zu benachrichtigen. Doch wie sollte
ich das machen, ohne ihnen sagen zu müssen, dass ich Zeuge gewesen war, wie sie
zum zweiten Male ihr Kind verloren hatten. Noch dazu auf so grausame Weise und
ungeachtet der Tatsache, dass sie gar nicht wussten, dass es existiert hatte?
    Ich ging in das
Café Kittel, wo sich Studenten herumtrieben, die eine spröde Frostigkeit um
sich verbreiteten. Unreifer Ernst triefte von der Decke, so dass mir mein
Kaffee nicht schmecken wollte, aber es passte zu meiner Stimmung. Ich versuchte
einen Plan zu fassen, mich selbst zu disziplinieren, das hieß: Erst musste ich
eine Geschichte erfinden, wo ich solange gewesen wäre. Ich entschloss mich,
meinen Eltern zu erzählen, ich hätte eine Rundfahrt in Griechenland gemacht, um
die letzten Monate zu vergessen. So würde ich wenigstens nicht vollständig
lügen. Denn es gibt eigentlich nichts Verfänglicheres, irgendeine Lüge
aufzutischen, und dann drei Wochen später nicht mehr zu wissen, was genau man
erlogen hatte.
    Meine Eltern würden
Verständnis dafür haben, obwohl sie voller Sorgen sein mussten, so dachte ich.
Doch der Gedanke daran, ihnen irgendeinen törichten Kram zu berichten, drehte
mir den Magen um. In unserem Hause hatte es große Lügen nie gegeben. Jetzt aber
sah ich mich dazu gezwungen, damit zu beginnen. Denn das, was ich zu

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