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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Kreutzer
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später hätte ich es fast geschafft: Ich hatte sie alle an der Nase
herumgeführt, es war alles perfekt gelaufen; wäre da nicht dieser Donnerstag
gewesen, der 9. November 1989, dieser Tag, an dem die Deutschen die Mauer
stürzten.
    *
    Ich war die
staubigen Straßen zum Hotel allein zurückgefahren, ohne Konrad, und erst jetzt
begann ich zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Ich vermisste ihn, was
ich keineswegs ungewöhnlich fand, denn schließlich war er in meinem Bewusstsein
für etwa zwei Wochen mein Bruder gewesen. Was mich allerdings wunderte war
meine Furchtlosigkeit. Ich hatte keine Angst, obwohl ich dazu allen Grund
gehabt hätte. Denn würden sie erfahren, dass ich nicht Konrad bin, der gerade
so tat, als wäre er ich, würden sie mich töten müssen.
    Mir ging kurz der
Gedanke durch den Kopf, ob ich den Tod verdient hätte, schließlich hatten die
Mörder es eigentlich auf mich abgesehen. Ich warf mir vor, feige und untätig
gewesen zu sein. Aber ich hatte an meines Bruders Statt überlebt und war ihm
verpflichtet. Das bedeutete: Ich musste meine Rolle als mein Bruder, der mich
kopierte, besser spielen als Konrad mich hätte spielen können. Eine wirklich
schwierige Aufgabe. Aber ich glaubte, meinen immerhin genetisch identischen
Bruder bestens zu kennen; und wenn es auch nur zwei Wochen waren, die ich ihn
gesehen hatte. Ich war verzweifelt, doch dachte ich auch seltsam logisch!
    Ich passierte
wieder die Apfelsinenfelder, die leuchtend orange das Licht und süßlich schwer
die Luft beherrschten. Für Konrad waren sie mehr gewesen als nur Plantagen. Für
ihn verkörperten sie die Sehnsucht einer gesamten Hemisphäre nach Freiheit,
ohne zu wissen, was das eigentlich sei.
    Als ich eine Stunde
später das Hotel betrat, begab ich mich unverzüglich zur Rezeption und holte
mir den Briefumschlag, den Konrad dort für mich hinterlassen hatte. „Ist Ihr
Bruder nicht bei Ihnen?“, fragte mich der Mann mit dem faltig braungebrannten
Gesicht auf Englisch. „Nein“, sagte ich ohne großen Einfallsreichtum, nahm den
kanariengelben Umschlag an mich und schleppte mich die Treppe hinauf ins
Zimmer.
    Ich hatte Angst vor
dem Umschlag und war aufgewühlt wie selten. Jedes kleine Geräusch, das von
draußen an mich drang, schwoll zu rasselndem Lärm. Ich schloss das Fenster und
legte mich erschöpft aufs Bett. Dann bauschte ich das Kissen auf und steckte es
hinter mich, so dass mein Rücken an der Wand lehnte. Schließlich riss ich den
Umschlag auf, was in meinen Ohren klang wie die Haut beim Abziehen eines Hasen.
    *
    Ich zog einen
Hefter heraus. Er enthielt ein komplettes Dossier über einen Mann namens Rudolf
Weiser, Major der Nationalen Volksarmee, 1975 abkommandiert für besondere
Aufgaben zum Ministerium für Staatssicherheit. Konrad hatte das Foto des Mannes
dazugelegt. Er trug eine einfach geschnittene schwarze Lederjacke, die ihm zu
eng war. Er maß vielleicht einssiebzig und schien kräftig. Ein gedrungener
Körper mit einem Bullenschädel, kurzen braunen Haaren und rundem Mondgesicht.
Ich glaubte bei genauem Hinsehen einen der Männer in ihm zu erkennen, die
Konrad auf dem Gewissen hatten, und zwar den, der geschossen hatte.
    Nun stieg das
Schreckliche wieder in mir hoch, kalter Schweiß und ein Schauer bemächtigten
sich meines Körpers. Ich fühlte mich schlecht. Ich spürte mein Blut bis in die
Fingerspitzen. Mein Körper stellte sich um. Ich war aufgestanden, ging im
Zimmer umher und wartete darauf, was mit meiner Lebensmaschine geschehen würde.
Ich dachte an Anna und hoffte, dass der Zustand während meiner heftigen Trauer
um sie nicht schon wieder beginnen würde. „Nicht schon wieder, bitte nicht“,
hörte ich mich leise winseln. Doch es kam nicht so schlimm, wie ich befürchtet
hatte. Das Blut beruhigte sich, das rastlose Kribbeln flaute ab, und ich war
wieder in der Lage, einigermaßen klar zu denken. Aber ich hatte Recht behalten,
dass die ersten Stunden nach Konrads Tod nur vom momentanen Schock übertüncht
waren, vielleicht als Konsequenz der letzten Monate im Sinne von erlerntem Selbstschutz.
    Ich hatte mich also
relativ rasch gefangen und las weiter in dem Dossier. Konrad schilderte, dass
dieser Mann, - eigentlich mein, aber doch - sein Mörder, in den letzten Jahren
sein Kontaktmann gewesen sei, nachdem Dimitrios desertiert war. Weiser sei ein
entschlossener Zyniker und Sadist. Konrad habe nie einen guten Draht zu ihm
gehabt und sei ihm nie sehr vertraut gewesen. Sie hätten sich

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