Gottes blutiger Himmel
Charakter die Mode der Frömmigkeitlandläufig angenommen hatte. Ebenso wie ich ehedem ihre stürmische Emanzipation nicht hatte nachvollziehen können, so bestürzte mich nun ihre Strenge. Beides war Ausdruck ihrer Launenhaftigkeit, zuerst als Kämpferin, dann als Ehefrau und schließlich als Mutter.
Mir fiel eine Frage ein, die mir Samer vor zwei Jahren gestellt hatte, als wir einmal im Park in der Nähe unserer Wohnung spazieren gegangen waren: »Vater, glaubst du an Gott?« Seine Frage hatte mich überrascht. Gott war nie zuvor Thema unserer Gespräche gewesen. Die leichte Röte seiner Wangen zeigte mir, dass Samer aus der unschuldigen Angst heraus gefragt hatte, ich könnte in die Hölle kommen. Ich nahm dies damals mit ein wenig Belustigung auf, wollte aber meinen Sohn auch nicht kränken. Ich hatte selbst keine Fragen zu Gott, ob es ihn nun gab oder nicht. Gleichwohl war für mich während meiner Gymnasialzeit das größte Drama, mit dem ich mich konfrontiert sah, mir vorzustellen, dass eine Welt ohne Gott existieren könnte. Dieser Gedanke verwirrte und belastete mich in meiner ungefestigten pubertären Existenz, aber zum Glück endete die Pein während der letzten Sommerferien vor der Universität. Denn nun dominierte bei mir die Idee, dass Gott tot sei – eine These, von der ich erst fast ein Jahrhundert nach ihrer Verkündung hörte. Es faszinierte mich, dass Gott als eine überlebte, unsinnig gewordene Idee bereits mehrfach zu Grabe getragen und von einer Welt überholt worden war, in der entweder alles vorherbestimmt oder ein Ergebnis von Zufällen war. Die Wissenschaften waren für mich der beharrliche Versuch, das Unerklärliche zu erklären, damit wir so ins Zeitalter der Zukunft eintreten mochten. Ich war überzeugt, in einer Welt zu leben, in der nur in den Hirnen von Abergläubischen noch Platz für Gott war, und auch die würden sich dieser Wahrheit nur noch einige Jahre widersetzen können. Danach gäbees Gott allenfalls noch auf dem abgelegensten Land, wo Glaube als Scharlatanerie fortbestehen würde, so wie es Magie immer gegeben hatte. Die allgemeine Anerkennung von Gottes Tod, glaubte ich, war nur eine Frage der Zeit.
Samers Frage passte gut zu meinen Studien über extremistische Gruppen und das islamische Erwachen, und ich argwöhnte, ob es nicht vielleicht doch Gott gewesen war, der uns vor einigen Jahren jene Niederlage bereitet, der uns unserer Gegenwart und Zukunft beraubt und uns zu einem Teil einer ruhmlosen Vergangenheit gemacht hatte? Seine Frage erstaunte mich gleichwohl nicht wirklich, sie weckte auch kein Misstrauen in mir. Ich antwortete: »Ich glaube an gar nichts.«
Als ich bemerkte, dass meine übertriebene Direktheit ihn verletzte, setzte ich scherzend hinzu: »Überzeuge mich nur, ich habe nichts dagegen.«
»Ein gewisses Maß an Glauben, auch wenn es nur wenig ist, ist unerlässlich, aber dir fehlt selbst das«, sagte er.
»Das ist kein Glauben, sondern Angst«, erwiderte ich.
Das nahm mir Samer übel. Es gefiel ihm weder, dass ich areligiös war, noch dass ich mich über Prediger und Scheichs lustig machte, wenn sie im Satellitenfernsehen Fatwas aussprachen. Seine Hinwendung zum Glauben – von deren Ausmaß ich jedoch keine Ahnung hatte – betrachtete ich als eine persönliche Entscheidung, die ich ihm nicht verübeln konnte und über die man nicht diskutieren musste. Später versuchte ich meine eigene abweichende Haltung als etwas darzustellen, worüber man nicht in Streit geraten und was uns nicht entzweien müsste, aber es blieb ein wunder Punkt zwischen uns, der immer wieder einmal aufbrach. Ich versuchte einen Kompromiss herzustellen, indem ich sagte, dass meiner Ansicht nach eine aufgeklärte Religiositätjungen Leuten in seinem Alter nicht schaden könne und dass ich nichts gegen einen praktizierten Glauben einzuwenden habe, solange er mit Verstand betrieben werde.
Nuha öffnete mit verweinten Augen die Tür. Mir war sofort klar, dass ihre Tränen mit dem zu tun hatten, was ich beim Geheimdienst erfahren hatte, obwohl ich wusste, dass auch geringere Anlässe sie zum Weinen brachten. Sie überraschte mich, indem sie sagte, sie habe sich nach mir erkundigt und mehrmals versucht, mich anzurufen, bis sie schließlich vermutet habe, ich hätte meine Rückkehr nach Damaskus verschoben. Sie war bekümmert; Samer sei gestern nicht aus Latakia zurückgekommen, habe aber heute Morgen angerufen und nach mir gefragt. Er habe darauf beharrt, nur in meinem Beisein etwas
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