Gottes blutiger Himmel
ohne sich um den Tod zu kümmern, der alltäglich geworden war und jederzeit zuschlagen konnte, so gewöhnlich wie banal, auf Straßen und an Checkpoints. Ich beschloss, meinen Fahrer zu provozieren: »Noch mehr darf im Irak nicht kaputtgehen. Unter Saddam gab es wenigstens Sicherheit. Chaos und Zerfall hatten keine Chance.« DerProzess gegen den abgesetzten Präsidenten lief gerade auf allen Kanälen und war bereits in der Schlussphase. Wer weiß, vielleicht sympathisierte Fadhil mit ihm. »Wünschen Sie sich ihn nicht zurück?«, fragte ich.
»Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen«, sagte Fadhil. »Selbst seine früheren Anhänger wollen ihn nicht mehr haben und auch die meisten Widerstandsgruppen nicht. Er wird nicht wiederkommen. Aber viele können selbst jetzt, nach drei Jahren, noch nicht glauben, was passiert ist. Ein Freund von mir wurde aus einem Gefängniskeller entlassen, in dem er zehn Jahre lang kein Tageslicht gesehen hatte. Er war halbtot. Sein Rücken ist bis heute gekrümmt, sein Gesicht besteht nur aus Haut und Knochen, seine Augen liegen in tiefen Höhlen, und seine Zähne sind verfault. Er traut sich noch immer nicht zu reden; Saddams Gespenst verfolgt ihn bis heute. Der Arme glaubt, dass er nur träumt, freigelassen worden zu sein, und fürchtet, er könnte jederzeit aufwachen und sich in Dunkelheit wiederfinden.«
»Nun ja, wenigstens gibt es jetzt Freiheit«, provozierte ich weiter.
»Und was sollen wir damit anfangen? Wir wollen nicht zurück in die Vergangenheit, aber wenn die Freiheit so wie das hier aussieht, dann können wir darauf verzichten. In der Straße, in der ich wohne, ist ein amerikanischer Checkpoint. Wenn ich aus dem Haus gehe oder nach Hause zurückkomme, muss ich einen amerikanischen Soldaten aus San Francisco oder Chicago um Erlaubnis fragen. Die könnten mich jederzeit von der Straße weg festnehmen oder mich aus meinem Bett ziehen, mir die Hände auf dem Rücken fesseln, mir einen schwarzen Sack über den Kopf stülpen und mich in ein Gefangenenlager bringen. Oder mich auch nur auf jede erdenkliche Art entwürdigen. Wer könnte sie daran hindern?«
In der Rashid-Straße stiegen wir aus dem Auto und liefen durch eine Menschenmenge. Fadhil ging einige Schritte voraus und bahnte mir einen Weg durch die Straße, die in der Mitte durch eine Betonsperre geteilt war. Gesäumt wurde sie beiderseits durch überdachte Passagen mit Geschäften, Cafés und Portalen, die auf Märkte führten. Die Gehwege und Plätze und der Rand der Straße waren vollgestellt mit Ständen ortsfester und mobiler Händler, deren Rufe sich mit dem Lärm aus Kassettenrekordern vermischten. Es war ein solches Gedränge, dass ich kaum die Straße vom Gehweg unterscheiden konnte. Überall wurde etwas angeboten, es schien mehr Verkäufer als Kunden zu geben. Chinesische Importwaren aller Art standen zum Verkauf, Elektroartikel, Mobiltelefone, Schuhe, Hemden und Pyjamas, aber auch CDs mit Filmen von den amerikanischen Folterpartys im Abu-Ghuraib-Gefängnis, von der Schlacht um Falludscha, von Straßenbomben, die neben Panzern oder Militärkolonnen hochgingen, Trainings- und Paradenfilmen islamischer Milizen …
»Wollen Sie kein Souvenir kaufen?«, fragte Fadhil.
»Ich hätte lieber eine andere Art von Erinnerung an Bagdad.«
»Wenn Sie direkt nach der Invasion gekommen wären, hätten Sie hier auf den Gehwegen die wundersamsten Dinge zu sehen bekommen.«
Magisterzeugnisse und Promotionsurkunden seien hier auf Bestellung angefertigt worden, ebenso Pässe und Personalausweise, Besitzurkunden für Immobilien und Lebensmittelkarten. Auch Uniformen hoher Offiziere mitsamt Orden und vergoldeten Revolvern sowie Zigarrenkisten aus Kuba mit den Namen von Saddams Söhnen darauf seien hier meistbietend verhökert worden. Daneben wurden Zeitungskorrespondenten und Reportern arabischer Satellitensenderstapelweise Unterlagen und Akten aus Behörden, irakische Botschafts-, Militär- und Geheimdienstdepeschen und Berichte über das Privatleben führender Vertreter des Regimes angeboten. Fliegende Händler hatten in Koffern Aktenbündel und amtliche Dokumente, Fotos und Videokassetten, Filme von Hinrichtungen angeblicher Iran-Agenten, Spitzelberichte über Verdächtige, Fahnenflüchtige und deren Familien sowie über intime Begegnungen von Söhnen hoher Beamter mit minderjährigen Mädchen mit sich herumgetragen. Alles hatte seinen Preis, und der konnte auch einmal ein paar hunderttausend Dollar betragen. Alles,
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