Gottes blutiger Himmel
Innerhalb von Minuten können die da sein und Sie mit vorgehaltener Waffe von der Straße zerren.« Fadhil machte keine Witze. Entführungen fanden überall statt, auf Märkten, in Krankenhäusern, in Ministerien oder Behörden, in Schulen und Universitäten. Einige Monate zuvor waren auf einen Schlag dreißig Mitarbeiter aus einem Gebäude des Roten Kreuzes verschleppt worden. »Und wenn sie mich für Ihren Dolmetscher halten, bekomme ich eine Kugel in den Kopf.«
Beim Abschied entschuldigte sich Fadhil, er sei für ein oder zwei Tage nicht verfügbar. Er riet mir, währenddessen nicht auf der Straße herumzulaufen, ich solle kein Risiko eingehen. Aber ich brauchte keine Ratschläge, ja, eigentlich brauchte ich gar keinen Begleiter oder Führer. Ich sagte zu Fadhil, dass ich nicht abschätzen könne, wie lange ich noch in Bagdad bleiben würde. Ich würde mich aber nur eingeschränkt bewegen und Gefahren meiden, schließlich sei ich nicht gekommen, um mich einfach so entführen und töten zu lassen. Mir liege etwas an meinem Leben, denn ich hätte noch etwas vor.
Fadhil erklärte, er müsse sich um einen jungen Verwandten namens Rabia kümmern, der bei ihm zu Gast sei. Tatsächlich war dieser zu ihm geflüchtet, denn seine Familie im Dorf suchte ihn. Man behauptete, er sei verantwortlich für den Tod eines Mannes und seines Sohnes. Rabia war von den Amerikanern verhaftet worden, als er an einer Protestdemonstration gegen die US-Armee teilgenommen hatte, die eine Dorfschule besetzt und in einen Stützpunkt umgewandelt hatte. Er wurde verhört und verriet, dass ein Mann aus dem Dorf und seine beiden Söhne die Demonstration organisiert hatten. Diese wurden ebenfalls festgenommen und ins Gefängnis von Abu Ghuraib gebracht. Dort beschuldigten private Sicherheitsbeamte sie, für den bewaffneten Widerstandzu arbeiten. Ein Sergeant, zwei Soldaten und eine Soldatin überwachten daraufhin ihre Folter. Sie vertrieben sich einen Abend lang bei Kerzenlicht die Zeit mit ihnen, indem sie ihnen schwarze Kapuzen aufsetzten, sie nackt auszogen und sie zwangen, Sexspiele mit anderen Gefangenen zu treiben. Zum Spaß sagten sie dann dem Vater, er habe Sex mit seinen Kindern gehabt. Der Mann beging noch im Gefängnis Selbstmord. Als seinem älteren Sohn die Nerven durchgingen, ließen die Amerikaner Hunde auf ihn los, die ihm die Geschlechtsteile zerfetzten. Stunden später starb er. Der jüngere Sohn kam zwei Jahre später frei und sagte, dass Rabia der Verräter gewesen sei. Rabia wurde daraufhin für vogelfrei erklärt. Sein Vater hatte Fadhil gebeten, ihn bei sich aufzunehmen, bis die Gemüter sich beruhigt hätten. Noch waren alle aufgebracht und forderten Rabias Tod. Der Stammeschef hatte den Vater bereits aufgefordert, seinen Sohn herauszugeben, damit die Angehörigen der im Gefängnis Getöteten sich an ihm rächen könnten, ansonsten würden sie die ganze Familie töten. Im Moment war Rabias Vater damit beschäftigt, vermitteln zu lassen, und hoffte, die Familie der Toten würde Blutgeld anstelle der Blutrache akzeptieren.
Fadhil nannte mir keinen neuen Termin. Er drückte mir nur die Hand und sagte: »Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen.«
Abends rief Miller mich überraschend von der Rezeption aus an und sagte, er warte in der Lobby auf mich. Ich dachte, er hätte mir wichtige Neuigkeiten mitzuteilen, aber als wir uns in die Halle setzten, stellte sich heraus, dass dem nicht so war. Ich erfuhr lediglich, dass er soeben einen Konvoi zusammengestellt hatte, mit dem er am nächsten Morgen nach Dhuluiya fahren würde.
Wir sprachen über dies und jenes. Ich schweifte mit meinenGedanken ab, doch plötzlich riss mich ein Satz von ihm in die Gegenwart zurück: »Ich habe ein paar Dinge über euch gelesen. Ihr sollt den Tod recht gern mögen, heißt es.«
Ich ärgerte mich über diese Bemerkung, die ich als berechnet empfand, und antwortete provokant: »Gib bitte nichts auf solche Analysen, die jetzt überall in Umlauf sind. Sie bieten bequeme Rechtfertigungen, aber sie sind dumm. Allerdings brauchst du die, die sie verbreiten, auch nicht hinzurichten.«
»Warum begeht ihr dann dauernd Selbstmord?«, wollte Miller wissen.
Er meinte natürlich die Selbstmordanschläge, die von Islamisten bei ihrem Krieg gegen den Rest der Welt immer wieder verübt wurden. Ich improvisierte eine Erklärung, die mir am einleuchtendsten schien:
»Es gibt Situationen, in denen einem das Leben ausweglos erscheint. Mancher erfährt
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