Gottes blutiger Himmel
Vordergrund. Samer war wie eine Puppe, mit der wir uns Tag für Tag die Zeit vertrieben, auch dann noch, als er in den Kindergarten und in die Schule kam. Erst als er sein Abitur geschafft hatte, betrachteten wir ihn als jungen Mann. Aber da seine Noten nicht besonders waren, konnte er nicht an die Universität Damaskus gehen, und er schrieb sich stattdessen an der Arabischen Universität in Beirut ein. Die Verantwortung, die wir für Samer zu haben glaubten, brachte Nuha und mich einander jedoch nicht näher, sondern entfernte uns eher voneinander. Die Art und Weise seiner Erziehung und der Fürsorge für ihn wurden zu einer Quelle des Streits zwischen uns Eltern, auch wenn wir, je mehr er heranwuchs, Sorge trugen, ihn nicht in unsere persönlichen Auseinandersetzungen hineinzuziehen. Sie betrafen ihn nicht, und ihn traf keine Schuld daran. Aber was ich von Nuha erduldete, erduldete ich für ihn. Dieser Grundsatz hielt mich in einer Ehe gefangen, die mir zu einem Quell des Kummers wurde.
Warum erinnerte ich mich nach all der langen Zeit an diese Dinge? Weswegen kehrte ich zurück in eine Zeit, in der ich ein anderer Mensch gewesen war? Vielleicht wollte ich dieser Mensch wieder sein.
Der Hoffnung und der Lüge kann man nicht entfliehen. Ich schrieb erneut an Sana.
Die neunte E-Mail
Deine Nachricht hat mich überrascht, aber auch erfreut. Es ist schwierig geworden, Momente des Glücks zu finden, wenn einem so viele Enttäuschungen jede Freude zunichtemachen.
Sieh es mir nach, wenn ich noch etwas Zeit brauche, um zu begreifen, dass ich alter Mann noch einmal Vater eines Kindes werde, das in einigen Monaten zur Welt kommen will.
Es ist ein großartiges, wenn auch verwirrendes Gefühl, dass ein Leben entsteht, an dessen Entstehung ich Anteil hatte und das nach mir fortbestehen wird, auch wenn es ein Leben inmitten von Verderbnis ist.
Mach Dir keine Sorgen. Ich werde alles für eine Heirat in die Wege leiten, wenn ich zurück in Damaskus bin.
Ich verstehe, wie sehr Du mich brauchst und dass das Kind mich braucht. Aber Samer braucht mich noch mehr, meinst Du nicht auch? Und ich möchte ihn zurückholen. Niemand kann seinen Platz einnehmen, und ich möchte auch keinen Ersatz für ihn haben, selbst wenn es ein Kind von meinem Fleisch und Blut wäre.
Ich werde ihnen Samer nicht überlassen.
Miller war aus Dhuluiya so zurückgekommen, wie er hingefahren war: unter schärfster Bewachung in einem Humvee-Jeep, begleitet von einer Kompanie von Infanteristen, drei Bradley-Schützenpanzern und zwei Helikoptern, die dieganze Zeit über in der Luft kreisten, während sich Miller im Haus der ausgelöschten Familie aufhielt. Hätte deren Bauernhof nicht am Rande des Dorfes gelegen, so hätte Millers Besuch die Unterstützung durch ein ganzes Bataillon von Marines erfordert. Dhuluiya lag in einer der gefährlichsten Gegenden des Irak, seit in der dortigen Provinz Salah ad-Din ein islamisches Emirat ausgerufen worden war. Hier waltete und schaltete jetzt al-Qaida; sie hatte Behördenfahrzeuge entwendet und Waffen von Staatsbeamten konfisziert, hatte Polizisten verboten zu heiraten, solange sie sich nicht öffentlich von ihrer Arbeit lossagten, und den Verkauf von Alkohol und Zigaretten untersagt. Die Organisation hatte eine Fatwa ausgesprochen, dass Rauchern die Finger abgeschnitten würden, und ließ Häscher des von ihr selbst eingerichteten Schariagerichts des islamischen Staates Irak herumfahren, die beauftragt waren, gegen Frevler verhängte Strafen auszuführen und Männer hinzurichten, denen nachgesagt wurde, der kollaborierenden irakischen Regierung anzugehören. Selbst in Städten entgingen viele Menschen nicht der Exekution, wenn sie des Unglaubens oder der Spionage für die amerikanischen oder irakischen Streitkräfte beschuldigt wurden. Ein Komitee zur Förderung der Tugend und Verhinderung der Sünde verteilte Schleier an Schülerinnen, warnte die Frauen, ihr Gesicht zu zeigen, und drohte ihnen mit dem Tod, falls sie Unzucht trieben.
Miller nahm dies erneut zum Anlass, mit mir über den Islam zu diskutieren.
»Sind Frauenhaare denn etwas Anstößiges? Immer wenn diese Radikalen eine Frau sehen, die ihr Haar nicht bedeckt, bedrohen sie sie mit dem Tod, sollte sie weiterhin kein Kopftuch tragen. Setzt eure Religion das Haar einer Frau mit ihrer Schamzone gleich?«
Manchmal wusste ich nicht, wohin es noch führen würde,wenn ich den Islam weiter gegen Millers Anwürfe verteidigen müsste. Wie sollte ich ihm
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