Gottes blutiger Himmel
erklären, dass die Scharia meiner Meinung nach grundsätzlich nicht gegen die Vernunft gerichtet war?
»Das sind extreme Auslegungen«, sagte ich. »Und es geht auch noch extremer. Es gibt Leute, die betrachten selbst die Stimme einer Frau als anstößig. Aber die Mehrheit macht sich solche Ansichten nicht zu eigen. Außerdem kommt es meist nicht zum Mord, sondern es bleibt bei Drohungen.«
»Ich habe von zwei jungen Frauen gehört«, fuhr Miller fort, »die von der Straße verschleppt wurden, weil sie keinen Schleier trugen. Nach ein paar Stunden haben sie sie mit geschorenen Köpfen nach Hause gebracht und danach Flugblätter verteilt, in denen sie das Haarescheren als milde Strafe bezeichneten. Ab jetzt würden sie Unverschleierte töten.«
Was die ermordete Familie betraf, so schloss Miller, dass keine Bande gewagt hätte, eine solche Tat zu begehen. Der Familienvater, der als Scheich Abdarrahim bekannt war, war ein geachteter Mann gewesen, der zwar al-Qaida nicht zugejubelt, sich aber auch nicht gegen sie gestellt hatte. Er hatte die Freilassung mancher Entführter erwirkt und die Ermordung von Gefangenen abgewendet, indem er sie gedrängt hatte, Reue für ihr Verhalten und Loyalität zu al-Qaida zu bekunden. Außerdem hatten er und andere Scheichs mit Abu Musab az-Zarqawi ausgehandelt, dass die Polizei in Dhuluiya nicht angegriffen wird. Miller hatte den Tatort inspiziert. Der gesamte Hausrat war durcheinandergeworfen worden, Türen und Fenster waren zerstört, getrocknetes Blut fand sich nicht nur an Wänden und auf dem Boden, sondern klebte auch an Äxten, Schaufeln, Stangen und Küchenmessern, die offenbar als Tatwerkzeuge benutzt worden waren. Und dieses Massaker war nicht das einzige. Schon an denzwei vorhergehenden Tagen hatten ähnliche Taten stattgefunden. In Bagdad waren in einem Viertel des Stadtteils Dura, in dem al-Qaida starken Einfluss hatte, sieben Bewohner eines Hauses ermordet worden. Drei Leichen wurden an der Decke aufgehängt, vier hatte man auf die Straße geworfen. Letzteren hatte man Köpfe und Glieder abgeschnitten, die Gedärme herausgerissen, sie ihnen wie Geschenkbänder umgebunden und die Herzen obenauf gelegt! Und bei Falludscha wurde ein Farmbesitzer zusammen mit acht Arbeitern getötet, bevor der ganze Hof niedergebrannt wurde. Man hatte nur noch verkohlte Leichen gefunden.
Diese beiden Verbrechen waren dem Anschein nach von Todesschwadronen oder von geheimen Kommandogruppen des Innenministeriums verübt worden, während die Täter wie bei jenem in Dhuluiya ihre Rachsucht kaum verhohlen hatten. Es war jedoch so gut wie ausgeschlossen, dass es sich um eine Abrechnung unter Irakern handelte, denn diese hätten wohl kaum Korane zerrissen und die Seiten der heiligen Schrift auf dem Boden verstreut. Vor allem aber fanden sich bestimmte Indizien bei allen drei Massakern: Überall waren die Opfer von Kugeln durchsiebt und die Leichen in ähnlicher Weise geschändet worden. Und überall waren Patronenhülsen von M4-Gewehren, Reifenspuren von Jeeps und Kettenabdrücke von Panzern zu sehen gewesen, aber nirgends fanden sich Zeugen bereit, die Täter zu benennen, weil sie offenbar selbst um ihr Leben fürchteten. Die bisherigen Informationen stammten von der irakischen Polizei, aber auch deren Angehörige fühlten sich nicht vor Vergeltung von wem auch immer sicher.
Drei Massaker, die an drei aufeinanderfolgenden Tagen verübt wurden, bis der Jeep verunglückt war. Wenn es sich also um einen Auftrag gehandelt hatte, so war dieser noch nicht abschließend ausgeführt worden. Aber war es ein Auftragund wenn ja, was für einer? Es musste doch zumindest ein Zeuge für diese Verbrechen aufzutreiben sein!
Und es tauchte auch wirklich einer auf, wenn auch vorerst nur am Telefon. Miller bekam einen Anruf von einem Amerikaner, der ihn aufforderte, am Mittwochabend in die Diskothek des Al-Rashid-Hotels zu kommen – nicht um zu tanzen, sondern um über Dinge zu sprechen, die seine Ermittlungen beträfen. Er solle nicht allein kommen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und so tun, als würde er sich mit seinem Begleiter unterhalten. Der Anrufer behauptete, er habe Informationen, die er vorerst nicht weitergegeben habe, um nicht aus der Grünen Zone ausgeschlossen zu werden. Er habe noch keine gesicherten Erkenntnisse, würde sich aber gerne mit Miller unterhalten.
Miller bat mich um den Gefallen, ihn dorthin zu begleiten. Jonathan sei wegen der Sache mit den Homosexuellen nicht abkömmlich.
Weitere Kostenlose Bücher