Gottes erste Diener
schreien.
Seit 1870 möchte jeder die
Antworten auf viele ungeheure Fragen wissen: Gibt es Menschen auf anderen
Planeten, und wenn ja, wie sind sie von der Fleischwerdung Christi betroffen?
Ist Atomkrieg unter irgendwelchen Umständen zu rechtfertigen, und darf ein
Katholik sich an der Erforschung und Entwicklung solcher Waffen beteiligen?
Hunderte ähnlicher Fragen sind von Wissenschaft und Technik aufgebracht worden.
Nicht eine unfehlbare Antwort kam aus Rom. Es wäre hilfreich gewesen, wenn ein
Papst, gestützt durch die Bibel, definiert hätte: »Jesus, der arme Mensch, ist
immer auf der Seite der Armen«; oder: »Wer es in seiner Macht hat, die
Hungrigen zu speisen und es nicht tut, läßt Christus selbst verhungern.« Pius
IX. und Pius XII. zogen es vor, ihre Unfehlbarkeit in mariologischen Aussagen
ohne Grundlage in Bibel oder Tradition auszuüben. Die Ernte der Unfehlbarkeit
ist mager.
Päpstliche Unfehlbarkeit trägt
zur Erleuchtung der Kirche nichts bei. Was ist dann ihre Funktion?
Sie scheint weniger mit der
Wahrheit zu tun zu haben als mit Macht. Das Ansehen des Papstes beruht nicht
auf der Unfehlbarkeit, sondern auf etwas, das »schleichende Unfehlbarkeit«
genannt worden ist. Der Papst ist sozusagen auch dann unfehlbar, wenn er nicht
unfehlbar ist. Dies erklärt, warum sich Papst und Heiliges Offizium frei
fühlen, selbst in anderen als Glaubensdingen Schweigen zu verordnen. Diskussion
würde die Harmonie zerstören, und diese ist der Segen, den der Papst der Kirche
bringt. Leider ist ihr Preis manchmal die Wahrheit, denn die Wahrheit kann nur
von freier und offener Diskussion kommen. Ihr Fehlen ist der Grund dafür, daß
Rom seit Jahrhunderten, seit Galileo, dazu neigt, außer Atem und zu spät am
Schauplatz jedes echten menschlichen Fortschritts einzutreffen, sei es nun
Freiheit der Meinungsäußerung, allgemeines Wahlrecht, Abschaffung der
Sklaverei, die Rolle der Frau in Gesellschaft und Priesteramt oder
Bevölkerungskontrolle mit wissenschaftlichen Mitteln. In den letzten hundert
Jahren hat die Kirche besonders ertragen müssen, was Newman in seinen
Tagebüchern prophezeit hat: »Eine finstere Nemesis für Herrschaftsakte... einen
tyrannischen Gebrauch seiner [Pius’ IX.] Macht... Er beanspruchte, er übte
größere Macht aus als jeder Papst zuvor.«
Unfehlbarkeit erweckt obendrein
den Eindruck der Allwissenheit oder wenigstens eines Zugriffs auf göttliche
Wahrheit, der kaum ehrerbietig ist. Gott ist der Unerkannte und Unerkennbare.
Josef Pieper zufolge hat Thomas von Aquin seine Summa theologica nicht
unvollendet gelassen, weil der Tod ihn ereilte, bevor er sie fertigstellen
konnte, sondern weil er eine Gotteserfahrung machte, die alles, was er
geschrieben hatte, wie Stroh erscheinen ließ. Monatelang war er außerstande, zu
schreiben, wegen dessen, was er gesehen hatte und nicht ausdrücken konnte. Wenn
nur die Kirchenführer den Eindruck machten, daß ihre besten Bemühungen nur
Stroh wären, würde es zu weniger Intoleranz führen.
Pius IX. und die Macht zum
Absetzen
Bald nach Vaticanum I gab die
jesuitische Publikation Civiltà Cattolica eine
Predigt von Pius IX. wieder. Er sprach zornig über die »vielen böswilligen
Fehler zur Unfehlbarkeit«. Der böswilligste, sagte er, betreffe das Recht des
Papstes, Monarchen abzusetzen und ihre Untertanen für frei von der Bindung an
sie zu erklären. Dieses Recht, räumte er ein, war »manchmal in extremen Fällen
von Päpsten wahrgenommen worden«. Doch das hatte »nichts zu tun mit der
Unfehlbarkeit«. Es war eine Frage der Autorität, »jener Autorität nach dem
damals geltenden öffentlichen Recht und der Zustimmung der christlichen Völker,
die im Papst den höchsten Richter der Christenheit ehrte und Urteile, auch in
weltlichen Angelegenheiten, über Fürsten und Staaten einschloß«.
Pius sagte weiter, die Zeiten
hätten sich völlig geändert. »Und nur Böswilligkeit könnte so verschiedene
Dinge und Zeiten verwechseln, als hätte ein unfehlbares Urteil über ein Prinzip
offenbarter Wahrheit irgendeine Ähnlichkeit mit einem Recht, das die Päpste auf
Begehren des Volkes ausüben mußten, wenn das Allgemeinwohl es erforderte.« Pius
wußte, warum 1871 »eine so absurde Idee« glaubhaft war, »an die niemand mehr
denkt, am wenigsten der Oberhirte. Sie suchen Vorwände, selbst die frivolsten
und unwahrsten, um Fürsten gegen die Kirche aufzuwiegeln.«
Selbst von Pius IX. nach dem
Vaticanum I ist dies bemerkenswert.
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