Gottes erste Diener
»Vorwitzigkeit«
privater Lehrer im Zaum halten wollen, die sich anmaßten, die Echtheit
biblischer Texte zu beurteilen, statt die Dinge dem Papst zu überlassen. So
durften Katholiken von 1927 an »gegen die Echtheit des Kommas geneigt sein,
vorausgesetzt, sie erklären sich bereit, dem Urteil der Kirche zu folgen, der
Jesus Christus das Amt anvertraut hat, nicht nur die Heilige Schrift zu deuten,
sondern sie auch treulich zu bewahren«.
Die Implikation war, daß die
Kirche keine Wissenschaftler braucht. Ihre Rolle ist nur die Weitergabe von
Entscheidungen der Päpste, die allein der Welt die wahre Bedeutung der Schrift
sagen können. Die lange Geschichte päpstlicher Bibelfehldeutungen — bis hin zur
Rolle des Kaisers als Marionette des Papstes — legte den Wissenschaftlern kein
völliges Vertrauen in seine Entscheidungen nahe.
Leo XIII. hatte begriffen, daß
mit seinen theologischen Wachhunden im Heiligen Offizium und ihren päpstlichen
Beschlüssen zur Schrift etwas nicht stimmte, und so hatte er in den Jahren vor
seinem Tod eine Bibelkommission eingesetzt. Er hatte einundvierzig Berater
ernannt, darunter viele Liberale.
Pius X. ersetzte unverzüglich
die Liberalen durch Reaktionäre, und zwischen 1906 und 1914 faßten sie eine
Reihe grotesker Beschlüsse, an die alle katholischen Bibelwissenschaftler sich
halten mußten.
Nach Vaticanum I wurde alles in
der Kirche zentralisiert. Jede biblische Schwierigkeit, jeder moralische
Zweifelsfall wurde, gewöhnlich von ultrakonservativen Bischöfen und Gelehrten,
zur Entscheidung nach Rom übermittelt.
Durch den Gehorsam gegenüber
den Dekreten der Bibelkommission manövrierten sich die katholischen
Wissenschaftler effektiv außerhalb des anerkannten akademischen Lebens. Gegen
alle zunehmenden Beweise mußten sie annehmen, daß Mose den gesamten Pentateuch
geschrieben hatte (die ersten fünf Bücher der Bibel), und daß die Kapitel 40—66
des Buches Jesaja aus einer Hand stammten. Fünfzig Jahre nach dem Ursprung
der Arten mußten sie glauben und lehren, daß die ersten drei Kapitel der
Genesis strikt historisch seien. Die erste Frau wurde aus Adams Rippe geformt;
die erste Sünde war die Übertretung eines ganz bestimmten göttlichen Gebotes
auf die Versuchung des Teufels in Form einer Schlange hin. 1907 »beschloß« die
Bibelkommission, daß alle vier Evangelien von denen geschrieben seien, deren
Namen sie tragen, und daß Paulus alle Pastoralbriefe sowie den Hebräerbrief
geschrieben habe.
Die katholischen Gelehrten
rannten in Deckung wie aufgestörte Krebse. Sie lebten in Angst, von ihren
Studenten oder Kollegen nach Rom gemeldet zu werden. In der Angst vor der
Exkommunikation für einen einzigen falschen Schritt konnten sie bestenfalls die
aufgeklärten Forschungen ihrer protestantischen Brüder mit dem Anschein der
Mißbilligung vortragen: Das war eine Möglichkeit, vernünftige Ansichten zu
vermitteln. Nur so konnten sie überleben und gegen alle Hoffnung auf bessere
Tage hoffen. Selbst der beste Bibelwissenschaftler der Zeit, Père Lagrange, durfte
seinen Genesiskommentar nicht veröffentlichen.
Und doch war seit weit über
hundert Jahren, lange vor Darwin, kein Gebildeter, religiös oder areligiös,
imstande gewesen, die ersten Kapitel der Genesis wörtlich zu nehmen. Hätte die
Kirche Voltaire nicht auf den Index gesetzt, so hätte sie von ihm lernen
können. In seiner Predigt über das Alte Testament zeigte er die Fehler und
Widersprüche des Genesis-Texts auf. Die Idee, daß alle Leiden des Menschen,
selbst Krankheit und Tod, auf den Fehler eines Urvaters der Menschheit
zurückgehen, ist nicht glaubhafter als die Büchse der Pandora. Erst wenn der
Mythos als Mythos akzeptiert wird, hat er Schönheit und Bedeutung.
Voltaire war satirischer, als
er die Sintflut und die Arche Noah aufs Korn nahm:
Es
ist fruchtlos, wenn Leute einwenden, daß wir in den feuchtesten Jahren keine 76
cm Regen bekommen... daß die Tiere die Arche nicht von Amerika und südlichen
Ländern aus erreichen konnten; daß sieben Paare von den reinen und zwei Paare
von den unreinen Tieren nicht in zwanzig Archen gepaßt hätten.... Ihre
Schwierigkeiten nehmen kein Ende. Doch sie sind alle durch den Hinweis gelöst,
daß dies große Ereignis ein Wunder war — das beendet alle Diskussion.
Über hundert Jahre vor Voltaire
hatte Galileo den Kirchenoberen praktisch den gleichen Schlüssel angeboten, um
die Mythen und Mysterien der Genesis zu erschließen. Die Vernunft war
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