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Gottes Gehirn

Gottes Gehirn

Titel: Gottes Gehirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Johler , Olaf-Axel Burow
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fasziniert. Eben noch waren ihm die Besucher wie graue, gesichtslose Angestellte oder Geschäftsleute erschienen, jetzt auf einmal hatte jeder sein unverwechselbares Profil. In den Gesichtern leuchtete ein Feuer, das man den meisten nicht zugetraut hätte. Auch Jane, die vorher noch gesagt hatte, dass Jazz nicht ihre Musik sei, schien begeistert. Unsere Existenz hat eben viele Ebenen, dachte Troller. Wir leben nicht nur in einer Welt, es gibt noch eine andere, zu der man nur in Ausnahmesituationen den Zugang findet.
    In der Bar des Algonquin nahmen sie noch einen Drink und besprachen kurz das morgige Interview, dann gingen sie auf ihre Zimmer. Troller versuchte Kowalski telefonisch zu erreichen, aber in Berlin war es noch zu früh, 6.30 Uhr. Kowalskis Anrufbeantworter sprang an, aber ein merkwürdiges Knacken in der Leitung hinderte Troller daran, etwas zu sagen.
    Biep – biep – biep. Die Nacht ging schneller vorbei, als ihm lieb war. Troller wälzte sich auf die linke Seite und griff nach dem Wecker. Schluss mit dem Gebiepe! Es war acht. Um neun war er mit Jane zum Frühstück verabredet, um zehn sollten sie bei Jackson sein.
    Er suchte nach der Fernbedienung. Er hatte sie gestern auf den Nachttisch gelegt. Als er nach ihr greifen wollte, fiel sie auf den Boden. Irgendwo in seinem Kopf wummerte etwas dumpf. Endlich ertasteten seine Hände die Fernbedienung. Er stellte den Fernseher an und zappte sich durch diverse Frühstückskanäle, bis er CNN erwischte.
    Wie elektrisiert richtete er sich auf. Was war das? Er hatte den Anfang nicht mitbekommen, aber wenn er das, was da geredet wurde, richtig verstand, dann hatte die UNO gestern Abend einen vollständigen Schuldenerlass für die Dritte Welt beschlossen. Und zwar einstimmig. Einstimmig? Konnte man das Ganze noch mal zurückspulen und von vorn ablaufen lassen? Nein, konnte man nicht. Der Koordinator der europäischen Außenpolitik wurde interviewt. Er wirkte entgeistert, fast verstört. „Ich verstehe das nicht“, sagte er immer wieder und schüttelte den Kopf. „Wir hatten eine ganz andere Übereinkunft. Aber als der Vertreter von Bangladesh in eindringlichen Worten die Lage seines Landes vor der Vollversammlung geschildert hatte, war plötzlich ein unerklärlicher Stimmungsumschwung entstanden.“ Der amerikanische Außenminister habe sich spontan ans Rednerpult begeben und erklärt, die USA wurden sofort und bedingungslos ihre UN-Schulden begleichen. Darüber hinaus habe er alle anderen aufgefordert, einem umfassenden Schuldenerlass für die Länder der Dritten Welt zuzustimmen.
    „Wir kennen alle die harte Haltung der USA“, sagte der Europäer. „Wir waren vollkommen überrascht. Als das Abstimmungsergebnis mitgeteilt wurde, entstand eine fast mystische Stille im Saal. Alle waren wie vom Donner gerührt. Der Sprecher musste das Ergebnis dreimal wiederholen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Und wieder zwei, drei Minuten Schweigen. Es war eine unerklärliche Schwingung im Raum. Glauben Sie mir, ich habe so etwas noch nicht erlebt.“ Er fuhr sich nervös durchs Haar und wiederholte: „Ich habe so etwas noch nie erlebt. Und dann . . .“, er stockte, als könne er es immer noch nicht fassen, „und dann brach ein unbeschreiblicher Jubel aus. Die Delegierten umarmten sich gegenseitig. Selbst der Generalsekretär der Vereinten Nationen war so gerührt, dass ihm die Stimme versagte. Als er sich wieder gefasst hatte, erklärte er, dies sei ein einzigartiger historischer Moment. Eine Wende in der internationalen Politik.“
    „Und? Ist es wirklich eine Wende?“, fragte der Interviewer. Der Europäer zuckte mit den Schultern: „Was weiß ich. Möglich ist alles nach diesem Tag.“ Er rang nach Worten und sagte dann: „Wissen Sie, wenn ich nicht so ein rationaler Mensch wäre, dann würde ich sagen, hier hat Gott eingegriffen.“
    Trollers Müdigkeit war längst verflogen. Er stellte den Ton leiser und griff zum Telefon. Ungefähr zehn Mal ließ er es bei Jane klingeln, bevor er aufgab. Sie war nicht mehr in ihrem Zimmer. Wo war sie? Er wählte ihre Handy-Nummer. Nach genau fünf Klingelzeichen ertönte die Stimme ihrer Mailbox. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen wollen . . . Er legte auf. Wo war Jane? Es war jetzt kurz vor halb neun. Im Fernsehen lief ein Werbespot für ein Auto, das in den USA bestimmt niemand kaufen würde.
    Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne, duschte sich, rasierte sich, zog sich an und begann den Koffer zu packen. Während der

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