Gottes Gehirn
sie hinwegschwebte. Zum Glück war der Kranführer ein Vollprofi. Er war vorhin einmal ziemlich wütend geworden, als die Jungs auf dem Gerüst einen Stahlträger offenbar ein bisschen zu lässig in Empfang genommen hatten. „Warum?“, sagte er noch einmal. „Von toten Wissenschaftlern hat er doch nichts.“
„Vielleicht sind ihre Gehirne ja noch lebendig. Lanskys Kopf, Eklunds Hirn, Freemans . . .“
„Und Kranich?“
„Möglicherweise war sein Gehirn nicht interessant genug. Außerdem haben wir ihn schon als Sonderfall verbucht. Er wollte dir was verraten.“
„Gut“, sagte Troller, „irgendjemand raubt Gehirne von Wissenschaftlern, die alle auf der Blake-Konferenz von 1995 waren. Kranich wusste das, oder er ahnte die Zusammenhänge. Und irgendjemand wollte verhindern, dass ich oder ein anderer davon erfuhr.“
„Aber die entscheidende Frage bleibt doch: Was macht Mr. Irgendjemand mit den Gehirnen? Und warum sucht er sich ausgerechnet herausragende Wissenschaftler aus?“
„Vielleicht ist er ein Nachfolger Harveys.“
„Mein Freund Harvey?“ Mein Freund Harvey war der Titel eines Theaterstücks. In der Filmversion hatte James Stewart die Hauptrolle gespielt. Einen Mann, dessen Freund ein für alle anderen unsichtbarer Hase mit Namen Harvey war.
„Nein“, sagte Troller. „Thomas Harvey.“
Der Kranführer machte nun offenbar Feierabend. Troller sah, wie er aus seiner gläsernen Kabine herauskletterte, mit einer Art Lift herunterfuhr und in Richtung St. Peter Street davon spazierte.
„Wer ist dieser Thomas Harvey?“
„Der Mann, der Einsteins Gehirn klaute.“
„Einsteins Gehirn?“
„Es war so: Am 18.April 1955 hatte sich der Pathologe Thomas Harvey von der Princeton University, der zufällig an diesem Tag Dienst hatte, die Leiche des frisch verstorbenen Einstein zur Autopsie vorgenommen. Er sieht das tote Genie vor sich liegen, und auf einmal überkommt ihn das Gefühl, er habe eine einmalige Chance, die er nicht verpassen dürfe. Ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen, sägt er Einsteins Schädel auf, trennt das Gehirn heraus und lässt es verschwinden. Er verliert dadurch seinen Job, rückt sein makabres Diebesgut aber trotzdem nicht wieder heraus.“
„Und was wollte er damit?“
„Er teilt es in zweihundertvierzig Gewebewürfel auf und untersucht sie. Er glaubt, in diesen zweieinhalb Pfund Nervengewebe verberge sich der Schlüssel zum Verständnis des Genies.“
„Und? Hat er ihn gefunden?“
„Na ja, man hat schon ein paar Auffälligkeiten gefunden. Aber ich glaube nicht, dass man aus den formalingetränkten Hirnschnipseln eines Genies das Geheimnis seiner Geistesgröße herauslesen kann. Er war ein Narr, unser Freund Harvey, mehr nicht.“
„Und du meinst, jetzt ist wieder so ein Narr am Werk?“
„Ist doch möglich, oder nicht? Vielleicht will wieder so ein abgedrehter Forscher dem Geheimnis des Genies auf die Spur kommen. Einer, der schon alles hat und dem nur noch dieser letzte Kick fehlt.“
„Nein“, sagte Jane. „Einsteins Gehirn war tot. Aber Eklunds Gehirn lebte, Lanskys Hirn lebte, und was mit Freemans passiert ist, wissen wir nicht. Und möglicherweise leben sie immer noch. Alle drei.“
„Vielleicht ist hier ja so eine Art moderner Dr. Cremer am Werk, der zur Abwechslung Gehirne sammelt und mit ihnen experimentiert“, sagte Troller. „Du erinnerst dich an diesen Auschwitz-Arzt?“
„Ich hab mal was von ihm gehört“, sagte Jane.
„Hier geht es natürlich nicht um Euthanasie, sondern um etwas anderes. Nehmen wir noch einmal für einen Moment an, Adams steckt dahinter. Was könnte er mit den Gehirnen anfangen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Jane. „Ich weiß es nicht.“ Sie schaute hinüber zum Mississippi und wirkte auf einmal so abwesend, wie Troller es vorhin gewesen war. Wahrscheinlich machte ihr die Hitze ja doch zu schaffen. Sie hatte zwar behauptet, sie habe es gern, wenn sich dieser Feuchtigkeitsfilm über ihre Haut lege – sie habe mal ein paar Monate in Taiwan gelebt, bei einem Freund, der dort am Goethe-Institut gearbeitet habe, und seitdem liebe sie dieses Klima –, aber vielleicht hatte sie ja auch übertrieben. Troller hasste diesen Freund vom Goethe-Institut, obwohl er ihn nicht kannte und auch nicht kennen lernen wollte. Wieso war Jane monatelang bei ihm geblieben?
„Troller“, sagte Jane unvermittelt mit angespannter Stimme. „Hast du vorhin auch den Kranführer weggehen sehen?“
„Ja.“
„Was für ein Hemd hatte er an?“
„Ich
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