Gottes Gehirn
Hotelzimmer im zwanzigsten Stock unweit des North Lake Shore Drives und schauten aus dem Fenster von Trollers Zimmer auf den Lake Michigan. Lichter blinkten und glitzerten an seinen Ufern, Lichter auch auf dem See, aber in der Ferne war es dunkel, fast schwarz. Kein Gedanke daran, das jenseitige Ufer zu sehen, da hinten, irgendwo weit weg in Kanada. Riesig war dieser See. Unvorstellbar groß für jemanden, der aus dem kleinen Europa kam und solche Wassermassen nur von den Meeren her kannte, von der Nordsee, der Ostsee, dem Atlantik oder dem Mittelmeer. Salzwassermassen – aber das hier, das war Süßwasser! Vielleicht hätte man es sogar trinken können.
Troller verstand wieder einmal, warum die Amerikaner so wenig Sinn für Umweltschutz hatten. Sie hatten einfach immer noch zu viel von allem. Zu viele Wälder, zu viel Wasser, zu viel Luft. Nicht unbedingt in den großen Städten und Ballungszentren, aber im Norden und im Mittleren Westen schien der natürliche Reichtum noch unermesslich.
„Ich hab noch etwas vor“, sagte er. „Da gibt es einen Jazzclub – kommst du mit?“
Das Auto, das sie am Flughafen gemietet hatten, stand auf dem Hotelparkplatz, und da konnte es auch bleiben. Was sollten sie in der fremden Stadt umherirren, wo es doch Leute gab, die sich darin auskannten?
Der Taxifahrer war Grieche oder griechischstämmig, und wie es der Zufall wollte, hatte er einen Bruder in Deutschland. Er habe ihn einmal besucht, sagte er, und sich gewundert, wie reich Deutschland sei. Alles habe funktioniert. Der Strom, das Wasser, die Autos, die Bahnen, die Fernseher, die Ampeln. Und die Straßen seien gut, besser als hier in Chicago. Von New York ganz zu schweigen.
„Waren Sie mal in New York? Die haben kein Geld für ihre Straßen. Aber im Augenblick sollten Sie sowieso nicht dahin fahren, da ist die Hölle los. Haben Sie von dem Hurrikan gehört? So was hat man in New York noch nicht erlebt! Da geht jetzt alles drunter und drüber. Seien Sie froh, dass Sie in Chicago sind. Wir haben ja auch mal ein bisschen Sturm in Windy City, aber ’n Hurrikan werden Sie hier nicht erleben. Hören Sie eigentlich auch diesen Ton?“, sagte er und fuhr sich mit dem Zeigefinger ins Ohr. „Alle Leute haben auf einmal diesen Ton im Ohr. Tinnitus. Meine Frau sagt allerdings: Es ist nicht Tinnitus, es pfeift wirklich. Es ist nicht drinnen, es ist draußen. Sie sagt, es sind die Ratten. Sie sitzen da unten, rotten sich zusammen und pfeifen im Chor. Jedenfalls passieren komische Dinge. Sogar in meinem Garten.“
„Was ist mit Ihrem Garten?“, wollte Jane wissen.
„Ist nur ein ganz kleiner Garten, Miss, groß wie ’n Handtuch, aber es reicht für ’n paar Gurken, Tomaten, Basilikum und solche Sachen. Und wissen Sie was? Die wachsen auf einmal schneller. Nicht nur so ’n bisschen wie im Frühjahr, die wachsen auf einmal doppelt so schnell. Meine Frau lacht mich aus, wenn ich das sage, aber ich seh’s doch! Vor drei Tagen – nein, vorgestern – haben die einen richtigen Schub gekriegt. Wusch! Auf einmal waren sie doppelt so groß. Na ja, vielleicht hab ich ja auch Halluzinationen, aber ich glaub’s nicht. Ich glaube, es passieren merkwürdige Dinge in dieser Zeit. So, da wären wir. Also, wenn Sie wieder in Deutschland sind, können Sie ja mal bei meinem Bruder vorbeischauen. Er hat ein Restaurant in Hannover, es heißt wie er, Nikos. So eine Moussaka finden Sie in Chicago nicht. Und immer einen Ouzo umsonst. Hier, ich gebe Ihnen seine Karte. Und das ist meine. Grüßen Sie ihn von mir.“
Im Swing-Club gab es Musik im Chicago-Stil der zwanziger und dreißiger Jahre. Troller war begeistert, Janes Begeisterung hielt sich auch hier wieder in Grenzen, wie schon in New York, als sie ins Blue Note gegangen waren. Sie stand eher auf Sting, Elton John, Madonna oder Michael Jackson. Begeisterung lässt sich nun einmal nicht erzwingen.
„Weißt du, dass wir jetzt beinahe dieselbe Reise gemacht haben wie der Jazz?“, sagte Troller, als sie an ihrem Tisch in der Nähe der Bühne saßen und den tanzenden Paaren auf der Tanzfläche und den Musikern auf dem Podium zuschauten. „New Orleans ist ja die Geburtsstätte des Jazz, aber kaum hatten die Musiker ihre erste Blütezeit erlebt, verloren sie ihre Jobs, weil der Red Light District dicht gemacht wurde, Storyville, da hatten sie alle gespielt. Aber während des Ersten Weltkrieges wollte man verhindern, dass die Soldaten sich reihenweise die Syphilis holten.“
„Und die Jazzer sind dann
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