Gottes Tochter
erzählt?
Was?« Ohne Rücksicht auf das Gedränge schob er Julika an der Reling entlang bis zum Bug, vorbei an fluchenden Gästen, die sich vor Steffens Ellbogen duckten und seinen ausladenden Schritten in den Springerstiefeln auswichen.
Er drückte Julika gegen einen Stahlpfeiler. Sie spürte einen Schmerz im Oberarm und versuchte mit aller Macht nicht daran zu denken.
»Maul auf!«, schrie Steffen.
»Lass sie los!«
Von irgendwoher war Rico aufgetaucht. Er griff mit einer Entschlossenheit nach Steffens Hand, die ihm Julika nicht zugetraut hätte, und schubste ihn weg.
»Mach das nie wieder, klar?« Rico schlug Steffen vor die Brust.
»Und jetzt hau ab!«
»Was hast du der erzählt? Das geht die einen Scheiß an!«
»Gar nichts hab ich ihr erzählt«, sagte Rico. »Ich hab mit Juri alles besprochen, frag ihn!«
Steffen spuckte auf den Boden und bahnte sich einen Weg durch den Pulk der Zuschauer. Julika rieb sich den Arm.
»Tut mir Leid«, sagte Rico. Julika drehte sich zur Seite.
»Das ist alles lang her, das hab ich dir doch gesagt, damals ist ein Mann ums Leben gekommen, und die Polizei hat rausfinden müssen, wie das passiert ist. Haben die aber nicht geschafft, dafür haben sie uns verdächtigt. Vor allem Juri. Ich war dauernd in der Blücherstraße, jeden Tag, und Juri auch, die haben uns nicht mehr rausgelassen, meine Mutti war völlig fertig…«
»Was ist in der Blücherstraße?«, fragte Julika. Jetzt hätte sie gern einen Schluck Bier getrunken. Aber Steffen hatte ihr die Flasche aus der Hand gerissen, bevor er sie die Reling entlanggescheucht hatte.
»Die Polizei«, sagte Rico. »Wir sind fast noch Kinder gewesen, aber die haben gedacht, wir wissen was.«
»Habt ihr was gewusst?«
»Nein«, sagte Rico.
Sie konnte sich nicht erklären, warum sie ihm nicht glaubte. Vielleicht, weil er so demonstrativ aufrichtig dreinschaute.
»Wenn das alles so lang her ist, warum rastet der Typ dann aus?«, fragte sie.
»Die Polizei ist neulich bei Juri gewesen, da gibts eine Staatsanwältin, und die hat behauptet, sie will den Fall noch mal aufrollen, noch mal von vorn, und sie will uns alle vorladen, Juri, Steffen, Ale…«
»Annalena war auch dabei?«
»Wir waren alle dabei.«
»Was ist da genau passiert? Warum hat das Haus gebrannt? Wegen den Vietnamesen, die da drin waren? Ich hab das nicht verstanden, was du mir heut Nacht erzählt hast. Habt ihr die vertreiben wollen? Warst du mal ein Nazi?«
»Ich war doch kein Nazi!« Wieder sahen einige Leute her, und Rico kratzte sich am Kopf und zerwühlte seine Haare. »Du hast doch keine Ahnung, was da los war! Hat Ale dir was erzählt?«
»Sie will, dass ihr Annalena zu ihr sagt.«
»Das sagt sie immer. Aber wenn sie einen Brief an Juri schreibt, schreibt sie Ale drunter.«
»Du kannst ehrlich zu mir sein, Rico«, sagte Julika. Er sagte: »Ich möcht jetzt ein Bier trinken.«
»Ich auch«, sagte sie. In diesem Moment fiel ihr Blick auf ein Skelett, das grinsend an einem Kran hing.
Sie hatte sie in den Arm genommen und ließ sie nicht mehr los.
»Sei doch wieder munter!«, sagte Annalena. »Du darfst dich nicht erschrecken, das darfst du doch nicht.«
»Ich hab mich aber erschrocken!« Gierig trank Julika aus der Bierflasche. Der Raum unter Deck, in dem ein Discjockey Musik auflegte, war verraucht. Ständig schoben sich neue Leute herein, und jeder versuchte im Gedränge zum Büfett vorzudringen. Julika stand, die Bierflasche an den Körper gepresst, eingezwängt zwischen dem Tresen und einem Schrank aus rötlichem Holz, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Rico hatte zuerst nicht verstanden, was mit ihr los war, bis er an ihrem Blick merkte, wo sie hinstarrte. Danach hatte er sie an der Hand genommen und nach unten geführt. Sie war froh gewesen, seine Hand zu spüren, seine rauen knochigen Finger. Kaum hatte er zwei Bierflaschen organisiert gehabt, tauchte Juri in der Tür auf und machte merkwürdige Gesten. »Wir spielen gleich was«, hatte Rico zu ihr gesagt und mit ihr angestoßen. Dann war er verschwunden.
Sie fragte sich, wieso sie mitgekommen war. Zum Glück hatte sie kein Geschenk gekauft, worüber sie gestern Abend allen Ernstes nachgedacht hatte. Doch Ricos Mutter hatte aus der Bibliothek eine neue DVD mitgebracht, einen Martial-Art-Film aus Hongkong. Rico hatte gesagt, sein Freund sei ein Fan von solchen Filmen. Juri war ihr genauso unheimlich wie Steffen, nicht nur, dass sie die beiden nicht mochte, sie misstraute ihnen, sie
Weitere Kostenlose Bücher