Gottes Tochter
»Sie ist eingesperrt!«
»Wo eingesperrt?«, schrie Rico.
»Im Klo! Sie hat zu viel getrunken!«
»Sie kommt schon raus, sie schafft das schon!«
Sie hatten den Pier erreicht, wurden weitergeschoben, weitergestoßen, weitergejagt.
Auf dem Schiff zerbarsten Scheiben, und aus den Bullaugen kamen Dinge geschossen, die man nicht erkennen konnte.
»Das Feuerwerk!«, schrie jemand. »Das Feuerwerk ist explodiert!«
Julika und Rico rannten an der »Independia« und anderen Schiffen vorüber, über den Parkplatz auf die Straße zu, wo die Autos lange Schlangen bildeten. Die Explosionen an Bord hörten nicht auf.
»Siehst du Annalena irgendwo?«, flüsterte Julika.
»Siehst du sie? Siehst du sie?«
Mit einem Mal war es dunkel geworden. Menschen irrten umher und umarmten einander. Die »Markgraf« schien zu zerbersten.
12
G egen drei Uhr morgens kamen Rico, Julika und Marlen Keel nach Hause. Sie hatten hunderte von Fragen beantworten müssen, und alles, was sie den Polizisten erklärten, führte zu noch mehr Fragen, zu noch größerer Verunsicherung. Einmal schrie Marlen Kommissar Halberstett an, und dieser drohte, wenn sie sich nicht beruhige, würde er sie samt ihrem Sohn und dessen Freundin in die Blücherstraße schaffen lassen, wo sie die ganze Nacht bleiben müssten.
»Der glaubt mir nicht«, sagte Rico.
Sie saßen in der Küche und tranken Tee. Sie hatten trockene Sachen angezogen, und Julika trug einen warmen Wollrock und einen Pullover von Marlen.
»Der muss dir glauben«, sagte Marlen. »Du hast nichts zu verbergen, du hast überhaupt nichts getan.« Als sie am Warnowufer angekommen war und ihren Sohn und Julika in einer Gruppe von Menschen stehen gesehen hatte, musste sie weinen, was ihr selten passierte.
»Der Kommissar glaubt, ich bin mit schuld an ihrem Tod«, sagte Julika.
»Woher weiß der, dass du da unten warst, kurz bevor das Zeug in die Luft geflogen ist?«, sagte Rico.
»Ich war ja unten, ich hab ja mit ihr gesprochen!« Julika zog den Kopf tief ein, als erwarte sie Schläge. »Das stimmt ja auch, sie hat sich eingesperrt, und dann ist die Panik ausgebrochen, und ich wollt noch… ich hab… ich hab zu dir gesagt, wir müssen sie rausholen, aber…«
»Ich hab gehört, wie Steffen zu Halberstett gesagt hat, er hätt mich bei der Kajüte gesehen, wo das Feuerwerk drin gelegen hat«, sagte Rico. Seine Haare waren zerwühlt, dauernd kratzte er sich mit beiden Händen am Kopf, und er sah weder seiner Mutter noch Julika ins Gesicht, wenn er redete.
»Was hat er gesagt?«, fragte Marlen laut.
»Ich war nicht in der Kajüte!«, sagte Rico. »Ich hab überhaupt nicht gewusst, wo das Zeug ist.«
»Den stell ich zur Rede!«, sagte Marlen. In ihrer Erinnerung tauchten Bilder auf, die sie sicher verwahrt geglaubt hatte, nun schälten sie sich wie Fratzen aus altem Gemäuer. »Ich zeig ihn an, den Kerl! Das ist Verleumdung, das lassen wir uns nicht gefallen, Rico!«
»Ich hätt Annalena mitnehmen müssen«, sagte Julika.
»Ich hätt sie nicht allein lassen dürfen! Der Polizist hat Recht, ich war an der Tür und hab nichts gemacht, ich bin einfach weggelaufen!«
»Das bist du nicht«, sagte Marlen. »Da waren noch viele andere Gäste, jeder hätte die Tür aufbrechen können, die Leute waren konfus, das ist ein tragischer Unfall, Julika, und es ist ein Glück, dass sonst niemand gestorben ist, das ist wirklich ein Wunder.«
»Sie ist tot!«, schrie Julika.
Marlen streckte die Hand nach ihr aus, aber Julika schlug sie weg. Rico starrte vor sich hin.
Dann klingelte das Telefon. Niemand stand auf. Marlen sah ihren Sohn an, der den Kopf gesenkt hatte. Das Telefon klingelte zehnmal.
Nach einigen Minuten sagte Rico mit hohler Stimme:
»Ich war nicht bei dem Zeug fürs Feuerwerk.«
»Sie wollten heiraten«, sagte Julika. »Am zwölften Mai, an ihrem Geburtstag.«
»Das hast du schon erzählt«, sagte Marlen.
»Der Typ hat sie betrunken gemacht.«
»Wer?« Marlen wartete auf eine Antwort. »Wer hat sie betrunken gemacht?«
»Sie ist alt genug«, sagte Rico.
»Du nimmst ihn in Schutz!«, schrie Julika. Rico zuckte zusammen.
»Du bist ein Schwein!« Sie sprang auf und lief über den Flur in Ricos Zimmer, knallte die Tür zu und sperrte ab. Man hörte, wie sie sich aufs Bett warf, wie sie wimmerte und mit der Hand gegen die Wand schlug. Einige Zeit später war es still.
»Was ist passiert?«, fragte Marlen und sah Rico so lange an, bis er ihren Blick erwiderte. »Du musst mir alles sagen,
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