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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hätte, wäre nichts geschehen, sein Freund würde noch leben und er selbst mit Julika im Holzhaus sein, unverfolgt und frei. Falsch! Erst jetzt war er frei, und er würde aufbrechen, wohin er wollte. Da war keiner, der ein Recht hatte ihn aufzuhalten. Die Tür stand offen, er brauchte bloß hindurchzugehen.
    Das alles hatte er längst zu Ende gedacht. In seinem Kopf waren nur noch Echos seiner Gedanken, sie lenkten ihn vom Warten ab und gaben ihm Selbstvertrauen und Schutz. Und dann kam ihm ein neuer Gedanke: Vielleicht hatte er seinen Freund töten müssen, damit sich die Tür überhaupt öffnete, vielleicht hatte er Steffen in dieser Nacht begegnen müssen, damit er hinterher begreifen konnte, in was für einem dunklen Keller er bisher gehaust hatte, von dem er glaubte, es sei ein Vierraumbungalow mit breiten Fenstern. Vielleicht wartete schon längst eine neue Gegend auf ihn, und er hatte sich die ganze Zeit nicht einmal gewundert, warum es draußen nicht hell wurde. Vielleicht war vorbei.
    Vorne bei den Stufen zum Altar hatte sich etwas bewegt. Rico umklammerte die Vorderbank und kniff die Augen zusammen. Im diffusen Licht, das durch die Fenster hereinfiel, hockte eine Taube. Einer ihrer Flügel hing bis zum Boden, und sie hatte den Kopf eingezogen und schien ohne Unterlass zu zittern. Vielleicht fror sie, vielleicht war sie am Verhungern, vielleicht hatte sie vergessen, wie das Fliegen ging. Vielleicht war vorbei. Rico lehnte sich zurück. Wenn seine Mutter nicht kam, würde er gehen, ohne sie noch einmal anzurufen. Später würde er ihr sagen, dass sie sich nicht zu sorgen brauche.
    »Ich hab solche Angst gehabt!«, sagte jemand neben ihm, und er erschrak.
    Sie setzte sich zu ihm und stellte ihre Tasche auf den Boden.
    »Hast du das Geld, Mutti?«
    Sie griff nach seiner Hand, die schneekalt war.
    »Was ist heut Nacht passiert, Rico?«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Und warum treffen wir uns ausgerechnet hier? Wir waren noch nie in dieser Kirche.«
    »Mir ist keine andere eingefallen.«
    »Was ist passiert, Rico?«
    »Es war alles Notwehr.«
    Mehr sagte er nicht. Sie schwiegen lange.
    »Und jetzt?«, sagte Marlen. Sie sah ihn weiter von der Seite ans und er starrte nach vorn zum Altar.
    »Ich hab in der Nähe was zu erledigen«, sagte Rico.
    »Was hast du zu erledigen?«
    »Das sag ich dir nicht.«
    Sie überlegte. Wer wohnte in dieser Gegend, den er kannte? Sie kam nicht drauf. Seine Hand war immer noch schneekalt, und sie drückte sie fester.
    »Ich muss mir ein Auto anschauen«, sagte er leise.
    »Was für ein Auto?«
    »Ein Auto.«
    Dann fiel es ihr ein: Die Werkstatt, in der Juri arbeitete, lag nicht weit entfernt.
    »Was willst du von Juri, Rico? Was willst du von dem?«
    »Nichts«, sagte er und sah sie zum ersten Mal an. »Von dem will ich nichts. Ich schau mir ein Auto an. Und jetzt muss ich los.«
    Die Worte, die sie sprechen wollte, zerschellten an ihrem Gaumen.
    Rico wandte das Gesicht ab, stellte die Füße von der Holzleiste auf den Boden und kratzte sich, wie Marlen es von ihm kannte, seit er fünf war, hektisch am Kopf. Es war eine Angewohnheit, eine Eigenart, nichts Aufsehen Erregendes, nichts Gefährliches, nichts Ansteckendes, eine kleine Rico-Manie. Der nächste Satz kostete sie ungeheuere Überwindung. »Und wo… wo wollt ihr hin, du und… und Julika, mit… dem Auto? Verrätst du mir das?«
    Er antwortete nicht sofort. Er holte Luft, wartete. »Hab ich doch schon gesagt, Julika hat eine Freundin, Sarah oder so ähnlich, bei der bleiben wir erst mal, die hat eine Wohnung.«
    »Wo?« Ihre Stimme hallte durch den Raum, und das war ihr egal.
    »In Berlin.« Er stand auf, und seine Hand glitt aus der ihren. Er stand neben ihr, sah nach vorn, als hätte er seine Mutter schon vergessen.
    »Sag was«, sagte Marlen.
    »Was denn?«, sagte er.
    »Du hast einen Menschen umgebracht, Rico.«
    »Nein«, sagte er.
    Seine Jeansjacke war nass und der Pelzkragen schmutzig. Marlen hatte ihm die Jacke zum achtzehnten Geburtstag geschenkt, und sie passte ihm immer noch.
    »Ich lass dich hier nicht weg.«
    Er schaute auf sie hinunter. Dieser Blick, dachte sie, begräbt mich wie eine Lawine. Sie bekam keine Luft. Sie wollte sagen: Ich lass dich nicht weg. Sie wollte noch einmal sagen: Hier hab ich Geld für dich abgehoben. Sie wollte sagen: Ich lass dich nicht weg, ich lass dich nicht weg. Sie bückte sich, griff in die Tasche und holte die Scheine heraus, die sie in ein Buch gesteckt hatte. Sie wollte

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