Gottes Werk und Teufels Beitrag
Heidenrespekt, und schon beim Gedanken an eine schwangere Frau wollte er davonlaufen; doch er bildete sich ein, daß seine Respektbezeugung im Waisenhaus, wo der Leichnam des Bahnhofsvorstehers aufgebahrt lag, ein quälender, aber unumgänglicher Tribut sei, den er leisten mußte. Beim Geruch von Erbrochenem, den er mit Babys in Verbindung brachte, ekelte ihn sogar; in das Waisenhaus führte ihn jetzt eine ungewohnte Tapferkeit, die seinem törichten jungen Gesicht eine beinah erwachsene Gefaßtheit gab – einmal abgesehen von jenem seidigen Klecks, der seine Oberlippe verunzierte und der all sein Bemühen um Männlichkeit der Lächerlichkeit preisgab. Auch stieg er schwer belastet den Hügel hinan, da er all jene Kataloge mitgebracht hatte; der Bahnhofsvorsteher würde sie jetzt nicht mehr brauchen, und sein Gehilfe stellte sich vor, wie beliebt er sich bei Dr. Larch machen könnte, wenn er ihm die Kataloge mitbrachte, als Geschenk, als eine Art Friedensgabe. Ob Dr. Larch überhaupt Bedarf haben könnte für Sämereien und Damenwäsche, hatte er sich gar nicht erst überlegt und ebensowenig, wie der alte Doktor auf Offenbarungen in bezug auf die Bedrohung der Seelen reagieren würde – seiner eigenen und so vieler rastloser anderer.
Die zwei Waisen, die der Bahnhofsvorstehergehilfe am meisten verabscheute, waren Homer und Melony. Homer, weil seine heitere Gelassenheit ihm ein sicheres und erwachsenes Auftreten gab, zu dem sich der Gehilfe außerstande fühlte; und Melony, weil sie sich über ihn lustig machte. Und um den schlimmen Tag noch schlimmer zu machen, mußte nun ausgerechnet Melony sich ihm in den Weg stellen.
»Was ist das auf deiner Lippe? Ein Pilz?« fragte Melony. »Vielleicht solltest du’s abwaschen.« Sie war größer als der Bahnhofsvorstehergehilfe, besonders jetzt, da sie am Hang über ihm stand. Er versuchte, sie nicht zu beachten.
»Ich bin gekommen, um den Körper in Augenschein zu nehmen«, sagte er würdevoll – jeder, der nur einen Funken Verstand besaß, wußte, daß diese Worte falsch gewählt waren im Umgang mit Melony.
»Willste meinen Körper in Augenschein nehmen?« fragte sie ihn. »Ich mache keinen Spaß«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie perplex er war, wie verängstigt. Melony nutzte sonst instinktiv alle Schwächen ihrer Gegner aus, aber im Fall des Bahnhofsvorstehergehilfen ließ sie sich erweichen. Der wäre auf der Straße stehengeblieben, bis er vor Erschöpfung umfiel, und darum trat sie für ihn beiseite und sagte: »Ich habe Spaß gemacht.«
Errötend stolperte er weiter und hatte fast die Ecke der Knabenabteilung erreicht, als sie ihm nachrief: »Du müßtest dich rasieren, bevor ich dich ließe!« Er kam ins Straucheln, was Melony über ihre Macht staunen ließ; dann bog er um die Ecke und fühlte sich innerlich gehoben durch den schimmernden Cadillac – durch den vermeintlichen weißen Leichenwagen. Wäre in diesem Moment ein Chor in himmlischen Gesang ausgebrochen, der Gehilfe wäre auf die Knie gefallen und hätte die Kataloge um sich verstreut. Dasselbe Licht, das den Cadillac segnete, schien von dem blonden Haar des kraftvoll wirkenden jungen Mannes auszustrahlen: des Fahrers des Leichenwagens. Nun, das war eine Verantwortung, die dem Bahnhofsvorstehergehilfen Ehrfurcht einflößte!
Er näherte sich Wally vorsichtig. Wally lehnte rauchend an seinem Cadillac, lebhaft vertieft in den Anblick eines Obstgartens in St. Cloud’s. Der Bahnhofsvorstehergehilfe, der wie ein leichenschänderischer Lakai eines Leichenbestatters wirkte, überraschte Wally.
»Ich bin gekommen, um den Körper in Augenschein zu nehmen«, sagte der Gehilfe.
»Den Körper?« sagte Wally. »Welchen Körper?«
Der Bahnhofsvorstehergehilfe war wie gelähmt vor Angst, sich zu blamieren. Die Welt bestand aus ihm unverständlichen Anstandsregeln; anscheinend war es taktlos gewesen, den Körper des Verblichenen zu erwähnen, zumal vor dem Mann, der dafür verantwortlich war, den Toten sicher wegzuchauffieren.
»Tausendmal Verzeihung!« haspelte der Gehilfe hervor; es war etwas, was er gelesen hatte.
»Tausendmal was?« sagte Wally, zunehmend verunsichert.
»Wie gedankenlos von mir«, sagte der Bahnhofsvorstehergehilfe, salbungsvoll sich verneigend und nach dem Eingang des Spitals davonkriechend.
»Ist jemand gestorben?« fragte Wally ängstlich, aber der Gehilfe schaffte es, ins Innere des Spitals zu schlüpfen, wo er sich rasch in einem Winkel in der Mauer verbarg und sich fragte, was
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