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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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doch längst nicht so groß, wie ein Nagel es machen würde; vielleicht benutzt Herb Fowler eine Reißzwecke oder den Dorn einer Zirkelspitze, dachte Homer Wells.
    Es war ein absichtlich gemachtes Loch, perfekt plaziert, genau im Mittelpunkt. Der Gedanke, daß Herb Fowler diese Löcher machte, ließ Homer Wells schaudern. Er erinnerte sich an den ersten Fötus, den er gesehen hatte, auf seinem Rückweg vom Verbrennungsofen – wie vom Himmel gefallen. Er erinnerte sich an die ausgestreckten Arme des ermordeten Fötus aus Three Mile Falls. Und an den blauen Fleck auf Grace Lynchs Brust, der sich von grün nach gelb verfärbte. Hatte Graces Reise nach St. Cloud’s ihren Ursprung in einem von Herb Fowlers Präservativen?
    In St. Cloud’s hatte er den Schmerz gesehen und die schlichteren Formen des Unglücks – und Depression und Destruktivität. Er hatte Niedertracht und auch Ungerechtigkeit erfahren. Dies aber ist böse, nicht wahr? fragte sich Homer Wells. Habe ich schon einmal das Böse gesehen? Er dachte an die Frau mit dem Ponypenis im Mund. Was tut man, wenn man das Böse erkennt? fragte er sich.
    Er schaute aus Wallys Fenster – doch in der Dunkelheit, vor seinem inneren Auge, sah er die zerklüftete, immer noch unbepflanzte Hügelflanke hinter dem Spital und der Knabenabteilung in St. Cloud’s; er sah den dichten, aber beschädigten, alle Geräusche schluckenden Wald hinter dem Fluß, der seine Trauer um Fuzzy Stone davongetragen hatte. Hätte er Mrs. Grogans Gebet gekannt, er hätte es ausprobiert, doch das Gebet, mit dem Homer sich zu beruhigen pflegte, war der Schluß des dreiundvierzigsten Kapitels von David Copperfield. Weil da noch weitere zwanzig Kapitel bevorstanden, waren diese Worte vielleicht zu unsicher für ein Gebet, und Homer sprach sie sich unsicher vor – als ob er nicht glaubte, daß die Worte wahr wären, als ob er sie aber zwingen wollte, wahr zu sein; indem er die Worte immer und immer wieder wiederholte, konnte er die Worte wahr machen für sich, für Homer Wells: »Ich bin stehengeblieben, um die Traumbilder jener Tage vorübereilen zu lassen. Sie sind vorüber, und ich trete die Reise meiner Geschichte von neuem an.« In dieser Nacht aber lag er wach, weil die Traumbilder jener Tage nicht vorübergeeilt waren. Wie die schrecklichen winzigen Löcher in den Präservativen, waren die Traumbilder jener Tage nicht leicht zu finden – und ihre Bedeutung war ungewiß –, aber sie waren da.
    Am anderen Morgen fuhr Wally wohl oder übel zur Universität in Orono. Am nächsten Tag fuhr Candy zur Camden Academy. An dem Tag, bevor die Pflückermannschaft auf Ocean View eintraf, besuchte Homer Wells – der größte und älteste Knabe an der High-School von Cape Kenneth – die erste Stunde in Biologie ii. Seine Freundin Debra Pettigrew mußte ihn in das Labor führen; Homer verirrte sich en route und geriet in eine Klasse, die gerade Werkunterricht hatte.
    Das Lehrbuch für Fortgeschrittene Biologie war B. A. Bensleys Praktische Anatomie des Kaninchens; der Text und die Illustrationen wirkten auf die anderen Studenten abschreckend, aber Homer Wells erfüllte das Buch mit Sehnsucht. Es war ein Schock für ihn, zu erkennen, wie sehr er Dr. Larchs zerlesenes Exemplar des Gray vermißte. Auf den ersten Blick fand Homer Anlaß zur Kritik an Bensley; während der Gray mit dem Skelett begann, begann Bensley mit dem Zellgewebe. Aber der Biologielehrer war kein Narr; leichenblaß war er, dieser Mr. Hood, doch beglückte er Homer Wells, indem er verkündete, er habe nicht die Absicht, genau dem Lehrbuch zu folgen – man würde, wie Gray, mit den Knochen beginnen. Beruhigt durch etwas, was Routine für ihn war, vergnügte sich Homer bei seinem ersten Blick auf das vergilbte Skelett eines Kaninchens. Die Klasse verstummte; einige Schüler waren angewidert. Wartet nur, bis wir zum urogenitalen System kommen, dachte Homer Wells, der seine Augen über die perfekten Knochen gleiten ließ; aber dieser Gedanke erschreckte auch ihn. Er merkte, daß er sich darauf freute, zum urogenitalen System des armen Kaninchens zu kommen.
    Er hatte den Schädel des Kaninchens seitlich im Blick; er fragte sich selbst die Namen der Teile ab – es war so leicht für ihn: cranialis, orbital, nasalis, frontal, mandibularis, maxillaris, prämaxillaris. Wie gut erinnerte er sich an Clara und die anderen, die ihn so vieles gelehrt hatten! 
     
    Was Clara betraf, so wurde sie endlich zur Ruhe gebettet an einem Ort, den sie sich

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