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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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– falls es noch da war; Raymond Kendall war seit Jahren nicht mehr in Bath gewesen.
    Damals, 194–, schien die Stadt, besonders für einen Auswärtigen, beherrscht von Werften und Schiffen, die höher aufragten als die Werftgebäude, und von der Brücke, die den Kennebec River überspannte. Bath war eine Arbeiterstadt, wie Melony bald entdeckte.
    Sie fand Arbeit in einer Werft und begann ihre Winterbeschäftigung an einem Fließband, wo sie mit anderen Frauen – und manchmal einem behinderten Mann – im zweiten Stock einer Fabrik stand, die auf bewegliche Teile spezialisiert war. Das bewegliche Teil, dem sich Melony im ersten Monat ihrer Beschäftigung zuwenden sollte, war ein sechseckig geformtes Zahnrad, das aussah wie eine der Länge nach aufgespaltene Schinkenhälfte; Melony wußte nicht, wo das Fließband mit der anderen Hälfte des Schinkens abblieb. Das Zahnrad traf auf dem Fließband vor ihr ein, lag dort genau fünfundvierzig Sekunden, bevor es weiterrückte und durch ein neues ersetzt wurde. Die Nabe des Zahnrads war vollgestopft mit Fett; man konnte seinen Finger in das Fett stecken, bis hinauf über das zweite Glied. Die Arbeit bestand darin, sechs Kugellagerkugeln in die fettverstopfte Nabe zu versenken; man drückte jede Kugel in das Fett, bis man sie gegen den Boden stoßen fühlte; sechs paßten exakt hinein. Der Trick bestand darin, sich nur eine Hand fettig zu machen; mit einer sauberen Hand war es leichter, die sauberen Kugellagerkugeln aufzusammeln, die die Größe von Murmeln hatten. Der andere Teil der Arbeit bestand darin, dafür zu sorgen, daß die sechs Kugeln perfekt waren – perfekt rund, perfekt glatt; keine Dellen, keine schartigen Metallspäne daran. Statistisch stimmte mit jeder zweihundertsten Kugellagerkugel etwas nicht; am Ende des Tages gab man die schlechten Kugeln zurück. Wenn man einen Tag ohne schlechte Kugellagerkugeln hinter sich hatte, sagte der Vorarbeiter einem, man hätte die einzelnen Kugeln nicht sorgfältig genug geprüft.
    Man konnte sitzen oder stehen, und Melony probierte im Laufe des Tages abwechselnd beides aus. Das Band war zu hoch, um bequem sitzen zu können, und zu niedrig, als daß es im Stehen besser gewesen wäre. Der Rücken schmerzte einem an der einen Stelle, wenn man stand, und an einer anderen, wenn man saß. Nicht nur wer was wo mit der anderen Hälfte des Zahnrades tat, blieb für Melony schleierhaft, sie wußte auch nicht, wozu das Zahnrad gut war. Mehr noch, es kümmerte sie nicht.
    Nach zwei Wochen hatte sie den Dreh raus; zwischen sechsundzwanzig und achtundzwanzig Sekunden, um die Kugellagerkugeln zu versenken, und nie mehr als zehn Sekunden, um sechs perfekte Kugeln aufzusammeln. Sie lernte, ein Nest von Kugellagerkugeln in ihrem Schoß anzulegen, wenn sie saß, und in einem Aschenbecher (sie rauchte nicht), wenn sie stand. Auf diese Weise hatte sie immer eine Kugel zur Hand, wenn sie eine fallen ließ. Sie hatte eine zwölf- bis vierzehnsekündige Pause zwischen den Zahnrädern. Während dieser Frist konnte sie die Person zu ihrer Linken und die Person zu ihrer Rechten ansehen und die Augen schließen und bis drei zählen und manchmal bis fünf. Sie beobachtete, daß es am Band zwei Arten zu arbeiten gab. Manche Arbeiter sammelten ihre sechs perfekten Kugellagerkugeln auf, unmittelbar nachdem sie ein Zahnrad fertig hatten; die anderen warteten erst darauf, daß das neue Zahnrad eintraf. Melony hatte an beiden Methoden etwas auszusetzen.
    Die Frau neben Melony sagte es so: »Manche sind Sammler, manche sind Säumer.«
    »Ich bin keines von beiden, oder beides«, sagte Melony.
    »Na, ich glaube, du wirst dich leichter tun, Schätzchen, wenn du dich entscheidest«, sagte die Frau. Ihr Name war Doris. Sie hatte drei Kinder; die eine Seite ihres Gesichts war noch hübsch, die andere aber verunziert durch ein Muttermal mit Borsten darauf. In den zwölf bis vierzehn Sekunden, die Doris zwischen zwei Zahnrädern hatte, rauchte sie.
    Zu Melonys anderer Seite war ein älterer Mann im Rollstuhl. Sein Problem war, daß er Kugellagerkugeln, die ihm herunterfielen, nicht aufheben konnte. Manche verfingen sich in seiner Fußdecke oder in der Rollstuhlmechanik, weshalb es klapperte, wenn er sich zur Kaffeepause oder zum Mittagessen rollte. Sein Name war Walter.
    Drei- oder viermal am Tag pflegte Walter zu rufen: »Scheißkugellagerkugeln!«
    An manchen Tagen, wenn jemand krank war, wurde das Fließband umbesetzt, und Melony war nicht zwischen Walter und

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