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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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das Haar aus der Stirn gestrichen, auf dieselbe Art, wie sie oft die Kleinen getröstet hatte. Wurden sie denn alle wieder wie Kinder? Und wurden sie, wie Schwester Angela behauptete, alle gleich, alle einander ähnlich, sogar körperlich? Jemand, der St. Cloud’s zum ersten Mal besuchte, mochte denken, sie wären allesamt Mitglieder derselben Familie.
    Plötzlich überraschte Schwester Angela sie in der Apotheke.
    »Na, ist es uns ausgegangen?« fragte sie Schwester Edna. »Was ist los? Ich war sicher, ich hätte einen ganzen Kasten bestellt.«
    »Einen Kasten wovon?« fragte Schwester Edna.
    »Merthiolat – rotes«, sagte Schwester Angela übellaunig. »Ich hatte Sie gebeten, mir rotes Merthiolat zu holen – im Entbindungssaal ist kein Tropfen mehr!«
    »Oh, ich hab’s vergessen!« sagte Schwester Edna und brach in Tränen aus.
    Wilbur Larch erwachte.
    »Ich weiß, wie beschäftigt ihr beide seid«, sagte er zu den Roosevelts, auch wenn er Schwester Edna und Schwester Angela allmählich erkannte – die ihm ihre müden Arme entgegenstreckten. »Meine treuen Freunde«, sagte er, als spräche er zu einer unermeßlich großen Hörerschaft von Gönnern. »Meine Mitstreiterinnen«, sagte Wilbur Larch, als kandidierte er für eine Wiederwahl – ein wenig erschöpft, aber nicht minder ernsthaft bemüht um die Unterstützung seiner Mitstreiterinnen, die wie er Gottes Werk in Ehren hielten. 
     
    Olive Worthington saß im Dunkeln in Wallys Zimmer, damit Homer, wenn er von draußen ins Haus schaute, sie nicht dort sitzen sah. Sie wußte, daß Homer und Candy beim Ciderhaus waren, und sie versuchte sich einzureden, daß sie es Homer nicht übelnahm, daß er Candy offensichtlich trösten konnte. (Er war außerstande, Olive im geringsten zu trösten; Homers Anwesenheit – bei Wallys Abwesenheit – machte Olive gereizt, und es zeugte wahrhaftig von Charakterstärke, daß sie sich für diese Gereiztheit zu tadeln vermochte; nur selten erlaubte sie sich, ihre Gereiztheit zu zeigen.) Und niemals hätte sie Candy für untreu gehalten – nicht einmal, wenn Candy allen verkündet hätte, sie werde Wally aufgeben und Homer Wells heiraten. Nur war es so, daß Olive Candy kannte: Olive erkannte, daß Candy Wally nicht aufgeben konnte, ohne ihn als tot aufzugeben, und das hätte Olive ihr verübelt. Er fühlt sich nicht tot an! dachte Olive. Doch es ist nicht Homers Schuld, daß er hier ist und Wally dort, rief sie sich ins Gedächtnis.
    Ein Moskito war im Zimmer, und sein nadelfeines Sirren störte Olive so sehr, daß sie vergaß, warum sie Wallys Zimmer dunkel gelassen hatte; sie knipste das Licht an, um Jagd auf den Moskito zu machen. Gab es nicht schreckliche Moskitos, dort wo Wally war? Die birmesischen Moskitos waren gesprenkelt (und viel größer als die in Maine).
    Ray Kendall war ebenfalls allein, aber er fühlte sich nur wenig durch die Moskitos belästigt. Es war eine stille Nacht, und Ray beobachtete das Wetterleuchten, das gegen die Verdunkelungsvorschriften entlang der Küste verstieß. Er machte sich Sorgen wegen Candy. Raymond Kendall wußte, wie der Tod eines anderen das eigene Leben zum Stillstand bringen konnte, und er bedauerte (im voraus), daß das Vorwärtsschreiten in ihrem Leben durch Wallys Verlust angehalten werden könnte. »Ich an ihrer Stelle«, sagte Ray laut, »würde den anderen Burschen nehmen.«
    Denn der andere Bursche war ihm ähnlicher; nicht daß Ray Homer Wells lieber gehabt hätte als Wally – er verstand ihn einfach besser.
    Aber Ray tat keiner einzigen Schnecke was zuleide, während er auf dem Anlegesteg saß; er wußte, daß eine Schnekke zu lange braucht, um dahin zu gelangen, wohin sie unterwegs ist.
    »Jedesmal, wenn du eine Schnecke vom Anleger wirfst«, stichelte Ray Homer Wells, »zwingst du jemand, sein ganzes Leben von vorn anzufangen.«
    »Vielleicht tu ich ihm einen Gefallen«, sagte Homer Wells, die Waise. Ray mußte zugeben, daß er diesen Jungen mochte.
    Das Wetterleuchten war weniger sensationell vom Dach des Ciderhauses aus – das Meer wurde selbst bei den hellsten Blitzen nicht sichtbar. Und doch war das Wetterleuchten unheimlicher dort; seine Ferne wie seine Lautlosigkeit erinnerten Candy und Homer Wells an einen Krieg, den sie weder spüren noch hören konnten. Für sie war der Krieg ein fernes Wetterleuchten.
    »Ich glaube, er ist am Leben«, sagte Candy zu Homer. Wenn sie zusammen auf dem Dach saßen, hielten sie sich an den Händen.
    »Ich glaube, er ist tot«,

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