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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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erlaubte sie Homer Wells, ihr dort Geschichten zu erzählen. Vielleicht war es, weil das Riesenrad und Mr. Roses Deutungen der Dunkelheit fehlten, daß Homer Wells sich veranlaßt fühlte, Candy alles zu erzählen.
     
    In diesem Sommer schrieb Wilbur Larch abermals an die Roosevelts. So oft hatte er ihnen beiden unter den Sternbildern des Äthers geschrieben, daß er sich nicht sicher war, ob er ihnen wirklich geschrieben oder nur davon geträumt hatte. Er schrieb immer an beide zugleich, nie nur an einen.
    Meistens fing er an mit: »Sehr geehrter Mister President«, und »Sehr geehrte Mrs. Roosevelt«, aber manchmal war er jovialer aufgelegt und begann: »Lieber Franklin Delano Roosevelt«; einmal begann er: »Liebe Eleanor.«
    In diesem Sommer sprach er den Präsidenten ganz schlicht an. »Mister Roosevelt«, schrieb er, sich den »Sehr geehrten« sparend. »Ich weiß, Sie sind sicher furchtbar mit dem Krieg beschäftigt. Trotzdem habe ich vollstes Vertrauen in Ihre humanitäre Gesinnung – und in Ihr Engagement für die Armen, für die Vergessenen und besonders für die Kinder …« An Mrs. Roosevelt schrieb er: »Ich weiß, Ihr Mann muß furchtbar beschäftigt sein, aber vielleicht könnten Sie ihn auf eine Sache von höchster Dringlichkeit aufmerksam machen – denn sie betrifft die Rechte der Frau und das Los des unerwünschten Kindes …«
    Die verwirrenden Lichterkonstellationen, die an der Decke der Apotheke blinkten, trugen ihr Teil zu dem überspannten und unverständlichen Stil des Briefes bei.
    »Dieselben Leute, die uns erzählen, wir müßten für das Leben der Ungeborenen eintreten – dieselben, die sich nicht bemüßigt fühlen, für etwas anderes einzutreten als für sich selbst, nachdem das Mißgeschick der Geburt komplett ist! –, also genau die, die ihre Liebe zur Seele des Ungeborenen bekunden, scheren sich keinen Deut um die Wohlfahrt der Armen, scheren sich keinen Deut um die Unerwünschten und die Unterdrückten. Und wie rechtfertigen sie, daß sie sich so sehr um den Fötus und so wenig um unerwünschte oder mißhandelte Kinder sorgen? Sie verdammen andere für das Mißgeschick einer ungewollten Empfängnis; sie verdammen die Armen – als könnten die Armen etwas dafür, daß sie arm sind. Eine Möglichkeit, wie die Armen sich selbst helfen könnten, wäre, die Größe ihrer Familie planen zu können. Denn für mich ist Entscheidungsfreiheit eindeutig demokratisch – eindeutig amerikanisch!
    Ihr Roosevelts seid Nationalhelden! Meine Helden seid Ihr jedenfalls! Wie könnt Ihr die anti-amerikanischen, antidemokratischen Abtreibungsgesetze dieses Landes dulden?«
    Inzwischen hatte Dr. Larch aufgehört zu schreiben und tobte in der Apotheke herum. Schwester Edna kam an die Apothekentür und pochte an die Milchglasscheiben.
    »Und das nennt sich eine demokratische Gesellschaft, wo Menschen zum Mißgeschick einer ungewollten Empfängnis verdammt sind?!« brüllte Wilbur Larch. »Was sind wir: Affen? Wenn ihr erwartet, daß Menschen verantwortlich sind für ihre Kinder, dann müßt ihr ihnen das Recht geben, zu entscheiden, ob sie Kinder bekommen wollen oder nicht. Was denkt ihr Leute euch eigentlich? Ihr seid nicht nur verrückt! Ihr seid menschenfressende Ungeheuer!« kreischte Wilbur Larch so laut, daß Schwester Edna in die Apotheke lief und ihn schüttelte.
    »Wilbur, die Kinder hören Sie!« sagte sie zu ihm. »Und die Mütter. Alle hören Sie!«
    »Niemand hört mich«, sagte Dr. Larch. Schwester Edna erkannte das unwillkürliche Zucken in Wilbur Larchs Wangen und die Schlaffheit in seiner Unterlippe; der Doktor tauchte gerade aus dem Äther auf. »Der Präsident beantwortet meine Briefe nicht«, beklagte sich Larch bei Schwester Edna.
    »Er ist sehr beschäftigt«, sagte Schwester Edna. »Vielleicht kommt er nicht einmal dazu, Ihre Briefe zu lesen.«
    »Was ist mit Eleanor?« fragte Wilbur Larch.
    »Was ist mit Eleanor?« fragte Schwester Edna.
    »Kommt sie nicht dazu, ihre Briefe zu lesen?« Wilbur Larchs Ton war weinerlich wie der eines Kindes, und Schwester Edna tätschelte seinen Handrücken, der von braunen Flecken gesprenkelt war.
    »Missus Roosevelt ist ebenfalls sehr beschäftigt«, sagte Schwester Edna. »Aber sie kommt sicher noch dazu, Ihnen zu antworten.«
    »Das dauert nun schon Jahre«, sagte Dr. Larch leise und kehrte sein Gesicht zur Wand. Schwester Edna ließ ihn ein Weilchen in dieser Stellung dösen. Sie versagte es sich, ihn zu streicheln; wie gern hätte sie ihm

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