Gottes Werk und Teufels Beitrag
»Wozu braucht er ein Baby? Wie kann er ein Baby haben und aufs College gehen – oder auf die Medical School?«
»Wann wollte er denn auf die Medical School, Wilbur?« fragte Schwester Edna.
»Ich wußte, er würde wiederkommen!« rief Schwester Angela. »Er gehört zu uns!«
»Ja, das tut er«, sagte Wilbur Larch. Unwillkürlich, und etwas steif, spannte sich sein Rücken, seine Knie winkelten sich an, seine Arme streckten sich aus, und die Finger seiner Hände öffneten sich halb – als bereite er sich vor, ein schweres Paket in Empfang zu nehmen. Schwester Edna schauderte, als sie ihn in einer solchen Pose sah, die sie an den Fötus aus Three Mile Falls erinnerte, dieses tote Baby, dessen so außerordentlich flehende Gebärde Homer Wells herbeigeführt hatte.
Homer sagte zu Olive Worthington: »Ich gehe nicht gerne fort, besonders wo Weihnachten vor der Tür steht, und all diese Erinnerungen – aber es gibt jemanden, den ich vernachlässigt habe. Eigentlich das ganze St. Cloud’s – dort ändert sich nichts. Sie brauchen immer die gleichen Dinge, und jetzt, da jedermann Kriegsanstrengungen macht, glaube ich, daß St. Cloud’s vergessener ist denn je. Und Dr. Larch wird auch nicht jünger. Ich könnte nützlich sein. Da die Ernte vorbei ist, habe ich, glaube ich, nicht genug zu tun. In St. Cloud’s gibt es immer zuviel zu tun.«
»Du bist ein braver junger Mann«, sagte Olive Worthington, aber Homer ließ den Kopf hängen. Er erinnerte sich daran, was Mr. Rochester zu Jane Eyre gesagt hatte:
»Fürchtet die Reue, wenn Ihr versucht seid zu irren, Miss Eyre: Reue ist das Gift des Lebens.«
Es war ein früher Novembermorgen in der Küche in Ocean View; Olive war noch nicht frisiert und hatte ihr Make-up nicht aufgelegt. Das Grau in dem Tageslicht und in ihrem Gesicht und in ihrem Haar ließ Mrs. Worthington in Homers Augen älter erscheinen. Sie benutzte die Schnur ihres Teebeutels, um den letzten Tee aus dem Beutel zu wringen, und Homer konnte den Blick nicht von den knotigen, verschlungenen Adern auf ihren Handrücken wenden. Sie hatte seit jeher zuviel geraucht, und morgens hustete sie immer.
»Candy kommt mit mir«, sagte Homer Wells.
»Candy ist eine brave junge Frau«, sagte Olive. »Es ist höchst selbstlos von euch beiden – wo ihr euch vergnügen könntet –, den unerwünschten Kindern Trost und Kameradschaft zu geben.« Die Schnur um den Bauch des Teebeutels war so straff, daß Homer dachte, sie würde den Beutel aufschlitzen. Olives Stimme war so förmlich, daß sie bei einer Preisverleihungsfeier hätte sprechen können, den preiswürdigen Heroismus schildernd. Sie versuchte mit aller Kraft, nicht zu husten. Als die Schnur des Teebeutels riß, blieben einige der nassen Teeblätter am Dotter ihres weichgekochten Eis kleben, das in einem Porzellaneierbecher thronte, den Homer Wells einmal mit einem Kerzenhalter verwechselt hatte.
»Ich könnte dir niemals genug danken für alles, was du für mich getan hast«, sagte Homer. Olive Worthington schüttelte nur den Kopf; ihre Schultern waren straff, ihr Kinn war gereckt. Die Geradheit ihres Rückens war fürchterlich. »Tut mir so leid wegen Wally«, sagte Homer Wells. Da war die allergeringste Bewegung in Olives Kehle, doch ihre Halsmuskeln blieben starr.
»Er ist nur verschollen«, sagte Olive.
»Richtig«, sagte Homer Wells. Er legte Olive die Hand auf die Schulter. Sie ließ sich nicht anmerken, ob die Hand eine Last war oder ein Trost, aber nachdem sie beide eine Weile so verharrt hatten, neigte sie ihr Gesicht eben genug, um ihre Wange an seine Hand zu legen; so verharrten sie noch eine Weile länger, wie posierend für einen Maler der alten Schule – oder für einen Photographen, der auf das Unwahrscheinliche wartet: daß die Novembersonne hervorkäme.
Olive beharrte darauf, daß er den weißen Cadillac nahm.
»Na«, sagte Ray zu Candy und zu Homer. »Ich glaube, es ist gut für euch beide, daß ihr zusammenhaltet.« Ray war enttäuscht, daß weder Homer noch Candy diese Feststellung mit Enthusiasmus würdigten; als der Cadillac aus dem Parkplatz beim Hummerbassin hinausfuhr, rief Ray ihnen nach: »Und versucht, Spaß miteinander zu haben!« Irgendwie zweifelte er, ob sie ihn gehört hatten.
Wer fährt schon nach St. Cloud’s, um Spaß zu haben?
Ich bin eigentlich nicht adoptiert worden, dachte Homer Wells. Ich hintergehe Mrs. Worthington nicht wirklich; sie hat niemals zu mir gesagt, sie sei meine Mutter. Trotz allem
Weitere Kostenlose Bücher