Gottes Werk und Teufels Beitrag
Abwesenheit von St. Cloud’s, so fragte sich Homer Wells, gänzlich verrückt geworden? Da war niemand, den er fragen konnte. Wenn Mrs. Grogan, Schwester Edna und besonders Schwester Angela ihm auch beipflichten mochten, daß Larch in andere Gefilde entschwebt sei – daß er ein Ruder über Wasser hatte, wie Ray Kendall sagen würde; daß sich bei ihm ein Reifen im Sand drehte, wie Wally zu sagen pflegte –, hätten dieselben Mrs. Grogan und die Schwestern Dr. Larch doch höchst energisch verteidigt.
Ihrer Meinung nach war Homer zu lange weggeblieben und seine Urteilsfähigkeit eingerostet. Zum Glück hatte Homers geburtshilfliche Technik unter seiner Abwesenheit nicht gelitten.
Schwangere Frauen halten sich nicht an Feiertage. Die Züge fahren zu anderen Zeiten, aber sie fahren. Es war nach sechs Uhr abends, als die Frau in St. Cloud’s eintraf. Entgegen seiner Gewohnheit begleitete der Bahnhofsvorsteher sie bis zur Spitalpforte, weil die Frau bereits ins zweite Stadium der Wehen eingetreten war – die Fruchtblase war geplatzt, und ihre Preßwehen kamen in regelmäßigen Abständen. Homer Wells palpitierte den Kopf des Babys durch das Perineum, als Schwester Angela ihm mitteilte, daß Dr. Larch zu betrunken sei, um geweckt zu werden, und daß Schwester Edna ebenfalls eingeschlafen sei.
Homer war besorgt, weil das Perineum Anzeichen einer Vorwölbung zeigte und weil die Frau auf eine ziemlich starke Äthernarkose nur langsam ansprach.
Homer mußte den Kopf des Säuglings zurückhalten, um das Perineum vor dem Einreißen zu bewahren; der mediolaterale Einschnitt, den Homer auszuführen beschloß, wurde an einer Stelle vorgenommen, die dem Sieben-Uhr-Punkt auf dem Zifferblatt entsprach – nach Homers Ansicht eine ungefährlichere Episiotomie, weil der Schnitt notfalls erheblich weiter geführt werden konnte als die Mittelschnitt-Operation.
Unmittelbar nach der Geburt des Kopfes ließ Homer seinen Finger um den Hals des Kindes gleiten, um zu sehen, ob die Nabelschnur sich dort verknotet hatte, doch es war eine leichte Geburt, und beide Schultern traten spontan aus. Er legte zwei Ligaturen an die Nabelschnur und durchtrennte die Schnur zwischen den beiden. Er hatte noch immer seinen Chirurgenkittel an, als er in die Apotheke ging, um zu sehen, wie Dr. Larch sich von seinem Erntedankchampagner erholte. Wenn Dr. Larch auch mit den Übergangsstadien vertraut war, in die er beim Wechsel aus einer Ätherwelt in eine Welt ohne Narkotika geriet, war er doch nicht mit dem Übergang zwischen Trunkenheit und dem Kater vertraut. Wie er Homer Wells im blutbefleckten Gewand seiner Zunft erblickte, wähnte sich Dr. Larch gerettet.
»Ah, Doktor Stone«, sagte er und streckte Homer die Hand entgegen, mit jener selbstbeweihräuchernden Förmlichkeit, wie sie unter Kollegen des ärztlichen Standes gang und gäbe ist.
»Doktor Wer?« sagte Homer Wells.
»Doktor Stone«, sagte Wilbur Larch und zog seine Hand zurück, während der Kater ihn überkam – eine Staubschicht an seinem Gaumen, so dick, daß er sich nur wiederholen konnte. »Fuzzy Stone, Fuzzy Stone, Fuzzy Stone.«
»Homer?« fragte Candy, als sie zusammen in einem der Betten lagen, die ihnen in ihrem Zimmer in der Mädchenabteilung zugeteilt worden waren. »Wieso hat Dr. Larch gesagt, du brauchtest nicht auf die Medical School zu gehen, um hier Arzt zu sein?«
»Vielleicht meint er, daß die Hälfte der Arbeit ohnehin illegal ist«, sagte Homer Wells. »Was soll es also, ein legaler Arzt zu sein?«
»Aber niemand würde dir eine Stelle geben, wenn du kein legaler Arzt wärst, nicht wahr?« fragte Candy.
»Dr. Larch vielleicht schon«, sagte Homer Wells. »Ich weiß einiges.«
»Du möchtest doch ohnehin nicht Arzt sein hier – oder?« fragte Candy.
»Das ist richtig, das möchte ich nicht«, sagte er. Was sollte all dies Getue um Fuzzy Stone? fragte er sich im Einschlafen.
Homer schlief immer noch, als Dr. Larch sich über die Erntedank-Frau beugte und die Episiotomie untersuchte. Schwester Angela erzählte ihm – Stich für Stich – davon, aber wenn Larch die Schilderung auch zu würdigen wußte, war sie eigentlich unnötig; wie das gesunde Gewebe der Frau aussah und sich anfühlte, sagte ihm alles, was er wissen wollte. Homer Wells hatte seinen Glauben an die eigenen Fähigkeiten nicht verloren; er hatte immer noch eine sichere Hand.
Er besaß auch die Selbstgerechtigkeit der Jugend und der Verletzten; Homer Wells kannte keine Selbstzweifel, die seine
Weitere Kostenlose Bücher