Gottes Werk und Teufels Beitrag
gelernt hatte als Mr. Rose die seine, ging Homer oft durch den Sinn. Gewisse Bildungsprivilegien vorausgesetzt, hätte Mr. Rose ein hervorragender Chirurg werden können.
»Hätte werden können«, murmelte Homer vor sich hin. Er war niemals glücklicher gewesen.
Er machte sich nützlich, er war verliebt – und wurde geliebt –, und er erwartete ein Kind. Was kann ich mir mehr wünschen? dachte er, wenn er seine täglichen Runden machte. Andere Leute streben vielleicht nach Unterbrechung der Routine, doch eine Waise sehnt sich nach dem alltäglichen Leben.
Mitten im Winter, bei einem Schneesturm – während die Frauen mit Mrs. Grogan Tee in der Mädchenabteilung tranken und Dr. Larch am Bahnhof war, um sich den Bahnhofsvorsteher persönlich vorzuknöpfen, weil er eine erwartete Sendung Sulfonamide verbummelt hatte – traf eine Frau vor der Spitalpforte ein, zusammengekrümmt vor Krämpfen und Blutungen. Sie hatte eine D ohne eine C bekommen, wie Schwester Caroline bemerkt haben würde; wer immer die Dilatation bewerkstelligt haben mochte, schien sie gefahrlos bewerkstelligt zu haben. Was jetzt erforderlich war, war eine abschließende Kürettage, die Homer allein ausführte. Nur ein sehr kleines Stück von den Produkten der Empfängnis war im Ausgekratzten erkennbar, was Homer Wells nur einen einzigen kleinen Skrupel kostete. Ungefähr im vierten Monat, schätzte er nach einem kurzen Blick auf das Stück und warf es sogleich weg.
In der Nacht, als er Candy streichelte, ohne sie aufzuwecken, staunte er, wie friedlich sie schlief; und er bemerkte, wie das Leben in St. Cloud’s doch ohne Ort und Zeit zu sein schien, unabänderlich, wie es hart erschien, aber liebevoll, wie es irgendwie gefahrloser zu sein schien als das Leben in Heart’s Rock oder in Heart’s Haven – sicherlich gefahrloser als das Leben über Birma. Das war die Nacht, als er aufstand und in die Knabenabteilung ging. Vielleicht suchte er seine Geschichte in dem großen Saal, wo all die Jungen schliefen, aber was er statt dessen fand, war Dr. Larch, der jedem der Jungen einen verspäteten Gutenachtkuß gab. Da stellte Homer Wells sich vor, wie Dr. Larch ihn auf diese Weise geküßt haben mochte, als er klein gewesen war; Homer Wells wäre nie auf die Idee gekommen, daß diese Küsse, auch jetzt noch, immer noch ihm zugedachte Küsse waren. Es waren Küsse auf der Suche nach Homer Wells.
In derselben Nacht sah er den Luchs auf der kahlen, unbepflanzten Hügelflanke – glatt jetzt von Schnee, der getaut und dann wieder zu einer dicken Kruste gefroren war. Homer war nur für einen Moment hinausgegangen; nach dem Beobachten der Küsse brauchte er Luft zum Atmen. Es war ein kanadischer Luchs – ein dunkles Kanonenstahlgrau vor dem helleren Grau des mondbeleuchteten Schnees, sein Wildkatzengestank so stark, daß es Homer den Atem verschlug, als er die Bestie roch. Deren Wildkatzeninstinkt war wach genug, um ihre Spur gerade einen Sprung weit vom sicheren Wald entfernt zu ziehen. Der Luchs querte den Rand des Abhangs, als er abzugleiten begann; seine Krallen griffen nicht auf der Schneekruste, und der Hügel war plötzlich steiler geworden. Die Katze rutschte vom düsteren Mondlicht in das grellere Licht vor dem Fenster von Schwester Angelas Büro; sie vermochte nichts gegen das seitliche Abgleiten. Sie wurde näher an das Waisenhaus herangetragen, als sie freiwillig gekommen wäre, ihr wilder Todesgeruch beißend vermischt mit der eisigen Kälte. Die Hilflosigkeit des Luchses auf dem Eis ließ seinen Ausdruck verängstigt und resigniert erscheinen. Wahnsinn und Fatalismus waren eingefangen in den glühenden gelben Augen der Katze und in ihrem unwillkürlichen geifernden Fauchen, während sie weiterglitt und tatsächlich gegen das Spital polterte, ehe ihre Krallen auf dem verkrusteten Schnee einen Halt fanden. Sie geiferte ihren Zorn gegen Homer Wells, als sei Homer die Ursache ihrer unfreiwilligen Abfahrt.
Ihr Atemhauch war in ihrem Kinnbart gefroren, und ihre Büschelohren glitzerten von Eisperlen. Die in Panik geratene Bestie versuchte den Hügel hinaufzurennen; sie war kaum halbwegs oben, als sie erneut abzugleiten begann, wider Willen hinabgezogen zum Waisenhaus. Der Luchs keuchte, als er zum zweitenmal am Fuß des Hügels losrannte; er lief schräg bergauf, rutschte, fing sich wieder, rutschte schließlich auf den weicheren Schnee im Walde und entkam – ganz woanders als dort, wohin er gewollt hatte.
Doch dem Luchs wäre jeder
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