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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Nabelschnur abgefallen und dessen Beschneidung verheilt war. Homer hatte seinen Sohn selbst beschnitten.
    »Du mußt in Übung bleiben«, hatte Dr. Larch zu ihm gesagt.
    »Sie meinen, ich soll meinen Sohn beschneiden?« hatte Homer gefragt.
    »Möge es der einzige Schmerz sein, den du ihm jemals zufügen wirst«, hatte Wilbur Larch erwidert.
    Es gab morgens immer noch Eis, an der Innenseite der Fensterscheiben. Homer pflegte seinen Finger an die Scheibe zu halten, bis sein Finger leuchtend rot war, naß und kalt, und dann berührte er Candy mit dem Finger – was sie aufweckte, wenn sie zu langsam auf sein sanftes Streicheln über ihre Stoppeln reagierte. Homer und Candy waren entzückt, wie sie zusammen wieder in das Bett paßten und wie Angel zwischen sie hineinpaßte, wenn Candy ihn stillte, und wie Candys Milch sie manchmal noch vor Angels Geschrei weckte. Sie waren sich einig: Nie waren sie glücklicher gewesen. Was machte es schon, wenn der Himmel, obschon fast Mai war, immer noch von der Schieferfarbe des Februar war und immer noch gestreift von Graupelschnee? Was machte es schon, wenn das Geheimnis, das sie in St. Cloud’s hüteten, nicht für immer gehütet werden konnte – und bereits ein Geheimnis war, das halb Heart’s Haven und halb Heart’s Rock selbst herauszufinden schlau genug gewesen war? Die Leute von Maine bedrängen einen nicht; sie lassen einen von allein zu Verstand kommen, wenn die Zeit reif ist.
    Alle zwei Tage fand in der Apotheke ein Wiegeritual mit Angel Wells statt, wobei Schwester Angela die Tabellen führte und Dr. Larch und Homer abwechselnd in Angels Bauch knufften, ihm in die Augen sahen und seine Greifreflexe überprüften. »Gebt es nur zu«, sagte Schwester Edna zu Candy und Homer bei solch einer Wiegezeremonie: »Euch gefällt es hier.«
    An diesem Tag, in St. Cloud’s, hatte es dreiunddreißig Grad Fahrenheit – knapp über dem Gefrierpunkt; der feuchte Schnee, mit dem der Vormittag angefangen hatte, verwandelte sich in Eisregen. An diesem Tag, in Heart’s Rock, hatte Olive Worthington ihr eigenes Geheimnis. Vielleicht hätte Olive, wären Homer und Candy ihr gegenüber entgegenkommender gewesen, ihr Geheimnis mit ihnen geteilt. Sie hätte zum Telephon gegriffen und sie angerufen. Aber die Leute in Maine lieben das Telephon nicht, eine taktlose Erfindung; besonders im Falle wichtiger Nachrichten trifft einen das Telephon unvorbereitet. Ein Telegramm bietet einem eine respektvolle Anstandsfrist, in der man seine Sinne zusammenraffen und antworten kann. Olive sandte ihnen ihr Geheimnis in einem Telegramm; dies gab allen noch ein wenig Zeit.
    Candy sollte das Telegramm als erste sehen. Sie stillte gerade Angel in der Mädchenabteilung, vor einem ganz verständigen Publikum von Waisenmädchen, als Mrs. Grogan ihr das Telegramm brachte, das einer der für den Bahnhofsvorsteher schuftenden Lakaien endlich auszuliefern sich bequemt hatte. Das Telegramm war ein offenkundiger Schock für Candy, die Angel abrupt Mrs. Grogan in die Arme drückte, obwohl Angel noch nicht fertig getrunken hatte. Es verwunderte Mrs. Grogan, daß Candy sich nicht einmal die Zeit nahm, ihre Brust richtig in ihren Büstenhalter zurückzuschieben – sie knöpfte sich lediglich die Bluse zu und lief, trotz des Wetters, hinaus und hinüber zur Spitalpforte der Knabenabteilung.
    Zu diesem Zeitpunkt fragte Homer gerade Dr. Larch, ob eine Röntgenaufnahme von seinem (Homers) Herzen sich für ihn als aufschlußreich erweisen könnte.
    Wilbur Larch überlegte sich seine Antwort sehr sorgfältig, als Candy zu ihnen hereinplatzte.
    Olive Worthington war eine Yankee-Frau, sie kannte den Preis eines Telegramms, die Kosten für jedes Wort, aber ihre Begeisterung für die Sache hatte sie eindeutig mitgerissen; sie übertraf bei weitem ihr übliches wortkarges Selbst.
wally lebend gefunden/stop/
    genesung von enzephalitis ceylon/stop/
    befreit aus rangoon birma/stop/
    temperatur zweiundneunzig grad/stop/
    gewicht einhundertundfünf pfund/stop/
    gelähmt/stop/
    in liebe olive 
    »Einhundertundfünf Pfund«, sagte Homer Wells.
    »Lebend«, flüsterte Candy.
    »Gelähmt«, sagte Schwester Angela.
    »Enzephalitis«, sagte Wilbur Larch.
    »Wie konnte er zweiundneunzig Grad Temperatur haben, Wilbur?« fragte Schwester Edna. »Das wären ja – zweiunddreißig Grad Fieber!«
    Dr. Larch wußte es nicht; er wollte keine Vermutung wagen. Es war wieder eines jener Details, deren Klärung sehr lange Zeit zu brauchen pflegt. Für

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