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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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hatten ihr sogar die Verantwortung für den Familienbetrieb übertragen. Melony bat Mary Agnes um einen geeigneten Rahmen für den Zeitungsartikel und das Photo, und Mary Agnes war entzückt, etwas Perfektes anbieten zu können: einen echt viktorianischen Bilderrahmen von einem Schiff, das in den Werften von Bath instand gesetzt worden war. Mary Agnes verkaufte Melony den Rahmen weit unter Wert, obwohl Melony eine reiche Frau war. Elektriker werden gut bezahlt, und Melony hatte seit fünfzehn Jahren Vollzeit für die Werft gearbeitet; und als Oberaufseherin der Fremdenpension wohnte sie beinahe mietfrei. Sie besaß kein Auto, und sie kaufte alle ihre Kleidung aus Beständen der us-Marine.
    Es paßte gut, daß der Rahmen aus Teak war – das Holz jenes Baumes, der Wally Worthington eine ganze Nacht lang in der Luft über Birma festgehalten hatte –, denn der Artikel handelte von Hauptmann Worthington, und das Bild, das Melony nach fünfzehn Jahren wiedererkannt hatte, zeigte ebenfalls Wally. Der Artikel handelte nur von der wunderbaren Rettung des abgeschossenen (und gelähmten) Piloten, der mit dem Purple-Heart-Orden ausgezeichnet worden war. Aus Melonys Sicht ähnelte die ganze Geschichte der Handlung eines billigen und unwahrscheinlichen Abenteuerfilms, aber das Bild gefiel ihr – und auch jener Teil des Artikels, der besagte, daß Wally ein Lokalheld sei, ein Worthington aus der Familie der Worthingtons, die seit vielen Jahren die Ocean-View-Obstgärten in Heart’s Rock besaßen und verwalteten.
    In ihrem Schlafzimmer in der Fremdenpension in Bath hängte Melony den antiken Bilderrahmen mit dem Artikel und der Photographie über ihr Bett. In der Dunkelheit war sie froh, zu wissen, daß er da war – über ihrem Kopf, wie die Geschichte. Und genauso froh war sie, wenn sie die Photographie bei Tageslicht betrachtete. In der Dunkelheit verweilte sie bei den Silben des Namens dieses Helden.
    »Worthington«, sagte sie laut, manchmal auch »Ocean View«, was ihr schon vertrauter war; oder »Heart’s Rock«, wobei sie rasch die kurzen Wörter ausspuckte.
    In solchen Stunden vor Anbruch der Dämmerung, es sind für Schlaflose die schwersten, pflegte Melony zu flüstern: »Fünfzehn Jahre.« Und kurz bevor sie einschlief, fragte sie dann das erste fahle Licht, das in ihr Schlafzimmer kroch: »Bist du noch dort, Sonnenstrahl?« Am allerschwersten fällt es uns doch, hinzunehmen, daß das Verstreichen der Zeit die Menschen, die uns einmal am meisten bedeuteten, einhüllt in Gedankenstriche. 
     
    Seit fünfzehn Jahren hatte Homer Wells die Verantwortung für das Schreiben und Anbringen der Spielregeln im Ciderhaus übernommen. Jedes Jahr heftete er sie ganz zum Schluß an die Wand, nachdem der frische Farbanstrich getrocknet war. Manches Jahr hatte er versucht, bei den Regeln witzig zu sein; in anderen Jahren hatte er versucht, unbekümmert zu klingen; vielleicht war es weniger der Regelkatalog selbst als vielmehr Olives Ton gewesen, der eine gewisse Kränkung bewirkte und es daher für die Wanderarbeiter zu einer Frage des Stolzes machte, die Regeln nie zu befolgen.
    Die Regeln selbst änderten sich kaum. Die rotierende Gitterscheibe mußte gereinigt werden. Ein warnendes Wort über das Trinken und Einschlafen im Kühllagerraum war geboten. Und lange nachdem das Riesenrad in Cape Kenneth abgebaut worden war und es so viele Lichter an der Küste gab, daß der Ausblick vom Dach des Ciderhauses dem Blick auf eine ferne Großstadt glich, saßen die Wanderarbeiter immer noch auf dem Dach und tranken zuviel und fielen herunter und pflegte Homer Wells sie zu bitten (oder ihnen zu befehlen), es zu unterlassen. Regeln, vermutete er, baten niemals; Regeln befahlen.
    Doch er versuchte, die Regeln im Ciderhaus freundlich klingen zu lassen. Er formulierte die Regeln in einem vertraulichen Ton. »Es hat im Laufe der Jahre Unfälle auf dem Dach gegeben – besonders nachts und besonders weil auf dem Dach viel getrunken wird. Wir empfehlen daher, daß Ihr mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, wenn Ihr trinkt«, schrieb Homer.
    Aber jedes Jahr wurde das Stück Papier mürbe und rissig und für andere Zwecke benutzt – als eine Art Behelfs-Einkaufszettel zum Beispiel, immer geschrieben von jemand, der es nicht richtig konnte.
Maismeel
    mittelfeiner Schrott 
    stand ein Jahr quer über Homers Regeln geschrieben.
    Zuweilen sammelten sich auf dem einsamen Stück Papier kleine, halbanalphabetische Schmähungen und Witzeleien.
    »Nix

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