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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nie aufhöre. 
     
    Man versprach ihm, daß man ihn die lange Heimreise antreten lassen werde, sobald er einhundertvierzig Pfund wog und sobald er ein paar Grundübungen beherrschte, die wesentlich waren für seine Rehabilitation. Er konnte die Route seiner in Aussicht genommenen Heimreise nicht schildern, wegen des Zensors. Wally hoffte, der Zensor werde – angesichts seiner Lähmung – Verständnis dafür haben, daß es notwendig war für ihn, etwas über seine »perfekt normale« Geschlechtsfunktion zu sagen. Der Zensor hatte dies durchgehen lassen. Wally wußte immer noch nicht, daß er steril war; er wußte, daß er eine Harnleiterinfektion gehabt hatte und daß die Infektion vorbei war.
    »Und wie geht es Homer? Ich vermisse ihn so sehr!« schrieb Wally.
    Doch nicht diese Stelle des Briefes erschütterte Candy zutiefst. Candy war so niedergeschmettert durch den Anfang, daß der Rest des Briefes nur noch eine fortgesetzte Vernichtung war.
    »Ich habe solche Angst, du wirst keinen Krüppel heiraten wollen«, fing Wally an.
    In ihrem Einzelbett, von den Gezeiten in den Schlaf gewiegt und wieder wach gerüttelt, starrte Candy auf das Bild ihrer Mutter auf dem Nachttisch. Sie hätte in diesem Moment gerne eine Mutter gehabt, mit der sie hätte reden können, und vielleicht weil sie keine Erinnerung an ihre Mutter hatte, erinnerte sie sich an den ersten Abend, als Homer und sie im Waisenhaus angekommen waren. Dr. Larch hatte den Jungen aus Große Erwartungen vorgelesen. Candy sollte niemals die Zeile vergessen, bei der sie und Homer eingetreten waren.
    »›Ich erwachte, ohne daß mich im Schlaf das Gefühl meiner Nichtswürdigkeit verlassen hätte‹«, hatte Wilbur Larch gerade vorgelesen. Entweder hatte Dr. Larch vorab beschlossen, die Abendlektüre mit dieser Zeile zu beenden, oder aber er hatte Candy und Homer Wells erst jetzt in der offenen Tür bemerkt – das grelle Licht auf dem Flur, eine nackte Glühbirne, bildete eine Art von anstaltsmäßigem Heiligenschein über ihren Köpfen – und seine Stelle im Buch verloren, was ihn aus der Eingebung des Augenblicks veranlaßte, das Vorlesen zu beenden. Aus welchem Grunde auch immer, dieses Gefühl der Nichtswürdigkeit war Candys Einführung in St. Cloud’s gewesen und der Anfang und das Ende ihrer Gutenachtgeschichte.

10
    Fünfzehn Jahre Seit fünfzehn Jahren waren Lorna und Melony nun ein Paar. Sie waren gesetzt auf ihre Art. Die ehemaligen jungen Rebellinnen aus der Nur-für-Frauen-Pension bewohnten jetzt die besten Zimmer – mit Blick auf den Fluß – und spielten, für ein Entgegenkommen in ihrer Miete, die Oberaufseherinnen des Hauses. Melony war geschickt. Sie hatte Klempnerei und Elektrikerin auf der Schiffswerft gelernt, wo sie eine von drei Werkselektrikern war. (Die anderen zwei waren Männer, doch sie machten nie Quatsch mit Melony; das wagte niemand.)
    Lorna war häuslicher geworden. Ihr fehlte die Konzentration für die Weiterbildung in der Werft, aber sie blieb angestellt – »Bleib, wegen der Rente«, hatte Melony ihr geraten. Lorna mochte sogar die Monotonie am Fließband, und sie war schlau genug, sich für die übertariflich bezahlten Schichten zu melden – sie war bereit, zu ungewöhnlichen Zeiten zu arbeiten, wenn sie weniger arbeiten konnte. Daß sie abends oft so lange fortblieb, beunruhigte Melony.
    Lorna wurde zunehmend feminin. Sie trug nicht nur Kleider (sogar bei der Arbeit) und benutzte mehr Make-up und Parfüm (und achtete auf ihr Gewicht), sondern ihr einst hartes Gesicht wurde auch weicher, und sie gewöhnte sich ein Lächeln an (besonders wenn sie getadelt wurde). Melony fand sie zunehmend passiv.
    Als Paar hatten sie selten gestritten, weil Lorna nicht mitstreiten wollte. Im Laufe der fünfzehn Jahre hatte sie entdeckt, daß Melony nachgab, wenn sie nicht auf Gegenwehr stieß; angesichts eines Widerstandes pflegte Melony niemals aufzugeben.
    »Du kämpfst nicht fair«, klagte Melony manchmal.
    »Du bist viel größer als ich«, erwiderte Lorna dann listig.
    Was eine Untertreibung war. Damals, 195–, als Melony in den Vierzigern war (wie alt genau, wußte niemand), wog sie einhundertfünfundsiebzig Pfund. Sie war fünf Fuß acht Zoll groß; sie maß beinah fünfzig Zoll um die Brust, was bedeutete, daß sie Männerhemden trug (große; alles unter Kragenweite 43 paßte ihr nicht; weil sie kurze Arme hatte, mußte sie immer die Ärmel aufrollen). Um die Taille brauchte sie Größe 44, im Schritt aber maß sie nur 28 Zoll

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