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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Lorna betäubt. Zusätzlich zu ihrem Koffer reichte Melony Lorna einen großen Karton.
    »Und den gibst du einer alten Frau namens Grogan – falls sie noch am Leben ist«, sagte Melony. »Sag nichts zu ihr, gib ihn ihr einfach nur. Und falls sie tot ist oder nicht mehr da –«, fuhr Melony fort; dann unterbrach sie sich. »Vergiß es«, sagte sie. »Sie ist entweder da, oder sie ist tot, und falls sie tot ist, bringst du den Karton zurück. Du kannst ihn mir wiedergeben, wenn du den Rest deiner Sachen abholst.«
    »Den Rest meiner Sachen?« fragte Lorna.
    »Ich war dir treu. Ich war treu wie ein Hund«, sagte Melony, lauter, als sie hatte sprechen wollen, weil der Zugführer sie sonderbar anschaute – als sei sie ein Hund. »Siehste was, was dir gefällt, Arschgesicht?« fragte Melony den Zugführer.
    »Der Zug fährt gleich ab«, murmelte er.
    »Bitte, wirf mich nicht raus«, flüsterte Lorna Melony zu.
    »Ich hoffe, du hast ein richtiges Ungeheuer in dir«, sagte Melony zu ihrer Freundin. »Ich hoffe, es reißt dich in Stükke, wenn man es dir aus dem Loch zieht.«
    Lorna stürzte hin auf dem Gang im Waggon, als sei sie niedergeschlagen worden, und Melony ließ sie hingestreckt liegen. Der Zugführer half Lorna auf die Beine und auf ihren Sitz; aus dem Fenster des rollenden Zuges sah er Melony fortgehen. Das war der Moment, als der Zugführer merkte, daß er beinah so heftig zitterte wie Lorna.
    Melony dachte an Lorna, wie sie anlangte in St. Cloud’s – an diesen Scheißkerl von Bahnhofsvorsteher (ob er noch dort war?), diesen langen Marsch den Hügel hinauf, mit ihrem Koffer und dem großen Karton für Mrs. Grogan (ob Lorna es schaffte?), und war der Alte immer noch im Geschäft? Sie war seit fünfzehn Jahren nicht mehr wütend gewesen, aber dies hier war ein erneuter Verrat, und Melony grübelte nach, wie rasch ihre Wut zurückgekehrt war; sie schärfte alle ihre Sinne. Es juckte sie in den Fingern, wieder Äpfel zu pflücken.
    Sie war überrascht, daß sie es fertigbrachte, ohne Heftigkeit an Homer Wells zu denken. Sie erinnerte sich, wie entzückt sie anfangs gewesen war, Lorna als Kumpel zu haben – zum Teil, weil sie Lorna vorjammern konnte, was Homer ihr angetan hatte. Jetzt stellte Melony sich vor, wie gern sie sich bei Homer über Lorna beklagen würde.
    »Diese kleine Hure«, würde sie zu Homer sagen. »Wenn nur irgendeiner ’ne Beule in der Hose hatte, konnte sie sich nicht satt sehen.«
    »Richtig«, würde Homer sagen, und gemeinsam würden sie ein Gebäude demolieren – nur um es in den Strom der Zeit zu stoßen. Wenn die Zeit verstreicht, möchte man die Menschen, die einen einst kannten, gern wiedersehen; mit ihnen kann man richtig sprechen. Wenn genug Zeit verstrichen ist – was macht es dann schon, was sie einem angetan haben?
    Melony stellte fest, daß sie einen Augenblick so denken konnte; doch wenn sie im nächsten Augenblick wieder an Homer Wells dachte, wollte sie ihn am liebsten umbringen.
    Als Lorna zurückkehrte von St. Clouds und in die Fremdenpension ging, um ihre Sachen zu holen, fand sie alles ordentlich zusammengepackt und in Kisten verstaut und in einem Winkel des Zimmers zusammengestellt; Melony war bei der Arbeit, darum nahm Lorna ihre Sachen und ging.
    Danach sahen sie sich vielleicht einmal die Woche in der Werft oder in der Pizza-Bar in Bath, wo alle aus der Werft hingingen; bei solchen Gelegenheiten waren sie höflich, aber stumm. Nur einmal richtete Melony das Wort an Lorna.
    »Die alte Frau, die Grogan – war sie am Leben?« fragte Melony.
    »Ich hab den Karton nicht wieder mitgebracht, oder?« fragte Lorna.
    »Also hast du ihn ihr gegeben?« fragte Melony. »Und du hast nichts gesagt?«
    »Ich hab nur gefragt, ob sie am Leben ist, und eine der Krankenschwestern sagte ja, also hab ich den Karton einer der Schwestern gegeben, als ich gegangen bin«, sagte Lorna.
    »Und der Arzt?« fragte Melony. »Der alte Larch – ist er am Leben?«
    »Kaum noch«, sagte Lorna.
    »Verdammt will ich sein«, sagte Melony. »Hat’s weh getan?«
    »Nicht sehr«, sagte Lorna vorsichtig.
    »Schade«, sagte Melony. »Es hätte richtig weh tun sollen.«
    In der Fremdenpension, wo sie jetzt die einzige Oberaufseherin war, riß sie aus einem uralten Katalog einen vergilbten Artikel heraus und eine Photographie aus der Tageszeitung. Sie ging in den Antiquitätenladen, der von ihrer dusseligen alten Verehrerin Mary Agnes Cork geführt wurde, deren Adoptiveltern gut zu ihr gewesen waren; sie

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