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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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er sei überrascht gewesen, daß Larch ihn ansprach; aber weil Larch sprach, nachdem der Zug abgefahren war, meinte der Bahnhofsvorsteher, Larch habe mit dem abfahrenden Zug gesprochen.
    »Leb wohl«, hatte Larch gesagt. Er stapfte wieder den Hügel zum Waisenhaus hinauf. Mrs. Grogan bot ihm Tee an, doch Larch fühlte sich zu erschöpft für Tee; er wollte sich lieber hinlegen.
    Schwester Caroline und Schwester Edna pflückten Äpfel, und Larch ging ein Stückchen den Hügel hinauf, um mit ihnen zu reden. »Sie sind zu alt, um Äpfel zu pflücken, Edna«, sagte Larch zu ihr. »Das sollen Caroline und die Kinder machen.« Dann ging er ein kurzes Stück mit Schwester Caroline zurück zum Waisenhaus. »Wenn ich etwas sein müßte«, sagte er zu ihr, »dann würde ich wahrscheinlich Sozialist sein, aber am liebsten möchte ich nichts dergleichen sein.«
    Dann ging er in die Apotheke und schloß die Tür. Trotz des Herbstwetters war es immer noch warm genug, um tagsüber das Fenster offenzulassen; er schloß auch das Fenster. Er hatte eine neue, volle Flasche Äther; vielleicht stieß er die Sicherheitsnadel zu hart in die Flasche, oder er schüttelte sie zu ungeduldig. Der Äther tropfte reichlicher auf die Gesichtsmaske als sonst; seine Hand glitt immer wieder von dem Trichter ab, bevor er genug bekam. Er drehte sich etwas zur Wand, auf diese Weise stützte die Fensterbank die Maske über seinem Mund und seiner Nase ab, nachdem der Griff seiner Finger sich gelockert hatte. Der Druck von der Fensterbank reichte gerade aus, um den Trichter an Ort und Stelle zu halten.
    Diesmal reiste er nach Paris; wie lebhaft ging es dort zu, am Ende des Ersten Weltkriegs. Der junge Doktor wurde dauernd von den Einheimischen umarmt. Er erinnerte sich, wie er mit einem amerikanischen Soldaten – einem Amputierten – in einem Café beisammengesessen hatte; die anderen Gäste gaben ihnen Cognac aus. Der Soldat drückte seine Zigarre in einen Cognacschwenker, den er nicht austrinken konnte – nicht, wenn er gleichzeitig mit seinen Krükken aufstehen wollte, mit seinem einen Bein –, und Wilbur Larch atmete dieses Aroma tief ein. So roch Paris – nach Cognac und Asche.
    Und nach Parfüm. Larch hatte den Soldaten nach Hause gebracht – er war ein guter Arzt gewesen, selbst damals, selbst dort. Er war eine dritte Krücke für den betrunkenen Mann, er war das fehlende Bein des Mannes. In dem Moment machte sich eine Frau an sie heran. Sie war eine Hure, ganz klar, und sie war ziemlich jung und ziemlich schwanger; Larch, der nicht sehr viel Französisch verstand, nahm an, sie wolle eine Abtreibung. Er versuchte ihr eben zu sagen, daß sie zu spät dran sei, daß sie durchhalten und ihr Baby bekommen müsse, als er plötzlich begriff, daß sie nur fragte, was Huren normalerweise fragen.
    »Plaisir d’amour?« Der beinamputierte Soldat war in Larchs Armen ohnmächtig geworden; die Frau bot also nur Larch das »Liebesvergnügen« an.
    »Non, merci«, murmelte er. Doch der Soldat brach zusammen; Larch brauchte die Hilfe der schwangeren Prostituierten, um ihn zu tragen. Als sie den Soldaten auf seinem Zimmer hatten, erneuerte die Frau ihr Angebot an Wilbur Larch. Er mußte sie von sich wegschieben – und doch entwand sich die Frau seinem Griff und drückte ihren prallen Bauch gegen ihn.
    »Plaisir d’amour!« sagte sie.
    »Non, non!« sagte er zu ihr; er mußte mit den Armen herumfuchteln, um sie von sich fernzuhalten. Eine Hand fuhr neben dem Bett hin und her und stieß die Ätherflasche mit der lockeren Nadel um. Langsam breitete sich eine Pfütze auf dem Linoleumboden aus; sie breitete sich unter dem Bett aus und überall drum herum. Die Dämpfe überwältigten ihn – die Frau in Paris hatte ebenfalls sehr stark gerochen. Ihr Parfüm war stark, und stärker noch waren die Ausdünstungen ihres Berufs. Als Larch sein Gesicht von der Fensterbank abwandte und der Trichter umfiel, würgte er bereits.
    »Prinzen von Maine!« Er versuchte sie zu rufen, brachte aber keinen Laut hervor. »Könige Neuenglands!« Er glaubte sie zu beschwören, aber niemand hörte ihn, und die französische Frau legte sich neben ihn und schmiegte ihren schweren Leib an ihn. Sie umarmte ihn so fest, daß er keine Luft bekam, und ihr würziges, scharfes Aroma ließ ihm die Tränen über die Wangen rinnen. Er glaubte sich zu erbrechen, was auch der Fall war.
    »Plaisir d’amour«, flüsterte sie.
    »Oui, merci«, sagte er nachgebend. »Oui, merci.«
    Die Todesursache

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