Gottes Werk und Teufels Beitrag
du geboren warst; du wurdest erst später du.«
»Ich dachte, es gäbe ein Gesetz«, sagte Homer. Er meinte Melonys Gesetz – ein Gesetz über Urkunden oder aufgeschriebene Historie –, aber Wilbur Larch war der einzige Historiker und das einzige Gesetz in St. Cloud’s. Es war das Gesetz eines Waisenhauses: Das Leben einer Waise begann, sobald Wilbur Larch sich daran erinnerte; und falls eine Waise adoptiert wurde, bevor sie erinnernswert wurde (was zu hoffen war), dann begann ihr Leben mit denjenigen, die sie adoptiert hatten. Das war Larchs Gesetz. Immerhin hatte er die notwendige Verantwortung übernommen, das Common Law dahingehend zu befolgen, wann ein Fötus quick sei oder noch nicht quick; auch die Regeln, die bestimmten, ob er ein Baby rettete oder ob er eine Mutter rettete, waren seine Regeln.
»Ich habe über dich nachgedacht, Homer«, sagte Dr. Larch zu dem Jungen. »Ich denke immer mehr über dich nach, aber ich verschwende meine – oder deine – Zeit nicht mit der Frage, wer du warst, bevor ich dich kannte.«
Larch zeigte Homer einen Brief, den er gerade schrieb und der noch in der Schreibmaschine steckte. Es war ein Brief an jemanden im Neuengland-Heim für kleine Vagabunden, das schon länger ein Waisenhaus war als St. Cloud’s.
Der Brief klang freundlich und vertraut; Larchs Briefpartner schien ein alter Kollege zu sein, wenn nicht sogar ein alter Freund. Im Ton von Larchs Ausführungen lag auch das Feuer häufiger Debatten – als sei der Briefpartner jemand, der Larch oft als eine Art philosophischer Widerpart gedient hatte.
»Der Grund, weshalb Waisen vor der Adoleszenz adoptiert werden sollten, ist, daß sie geliebt werden und jemanden haben sollten, den sie lieben, bevor sie in jene notwendige Phase des Heranwachsens eintreten: nämlich die Arglist«, führte Larch in dem Brief aus. »Ein Heranwachsender entdeckt, daß Täuschung beinah so verführerisch ist wie Sex und viel leichter ins Werk zu setzen. Besonders leicht lassen sich die hintergehen, die man liebt – die Menschen, die dich lieben, sind am wenigsten darauf vorbereitet, eine Täuschung zu erkennen. Liebst du aber niemanden und hast das Gefühl, daß niemand dich liebt, so gibt es niemanden, der die Macht hätte, dich anzuspornen, indem er dir nachweist, daß du lügst. Wenn eine Waise nicht adoptiert ist, bis sie diese schwierige Phase der Adoleszenz erreicht hat, wird sie vielleicht immer fortfahren, sich selbst und andere zu täuschen.
Eine schreckliche Phase seines Lebens täuscht sich der Heranwachsende selbst; er glaubt, er könne die Welt austricksen. Er glaubt, er sei unverletzlich. Für einen Heranwachsenden, der in dieser Lebensphase Waise ist, besteht die Gefahr, nie erwachsen zu werden.«
Natürlich wußte Dr. Larch, daß es sich mit Homer Wells anders verhielt; der wurde geliebt – von Schwester Angela und Schwester Edna, und von Dr. Larch, ob er es wollte oder nicht – und Homer wußte nicht nur, daß er geliebt wurde, er wußte wahrscheinlich auch, daß er diese Menschen liebte. Sein arglistiges Alter würde vielleicht segensreich kurz bleiben.
Melony war das perfekte Beispiel für die heranwachsende Waise, die Larch in seinem Brief an das Neuengland-Heim für kleine Vagabunden geschildert hatte. Das ging auch Homer auf, der – bevor er ihr die Nachricht zusteckte, daß ihre Geschichte »Nicht zu finden« sei – Melony gefragt hatte, wozu sie ihre Mutter finden wolle.
»Um sie zu töten«, sagte Melony ohne Zögern. »Vielleicht werde ich sie vergiften, aber falls sie nicht so groß ist wie ich, falls ich viel stärker bin als sie, und wahrscheinlich bin ich’s, werde ich sie erwürgen.«
»Sie erwürgen«, wiederholte Homer Wells fassungslos.
»Was?« fragte Melony ihn. »Was würdest du tun, wenn du deine Mutter fändest?«
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ihr ein paar Fragen stellen, wahrscheinlich.«
»Ihr ein paar Fragen stellen!« sagte Melony. Solchen Hohn hatte Homer nicht mehr in Melonys Stimme gehört, seit sie auf Jane Eyres »Sonnenstrahlen« so stark reagiert hatte.
Homer wußte, daß die einfache Nachricht – »Nicht zu finden« – sie niemals befriedigen würde, auch wenn Homer Dr. Larch, wie meistens, überzeugend gefunden hatte. Homer hielt aber auch etwas geheim, vor Dr. Larch wie auch bis zu einem gewissen Grad vor sich selbst. Die Photographie der Frau mit dem Pony war immer noch zwischen seiner Matratze und dem Federrahmen festgeheftet; vom vielen Anfassen war sie ganz
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