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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einfach nach einem Organ.
    »Ein hohles, muskulöses Organ von konischer Form«, wie Homer Wells auswendig aus Grays Anatomie rezitieren konnte, »… eingeschlossen in die Höhle des perikardium.« Damals, 194–, hatte Homer jedes der Herzen in den drei Leichen gesehen, die Dr. Larch für ihn erworben hatte (wobei jede Leiche ihre Nützlichkeit für Forschungszwecke etwa binnen zwei Jahren erschöpfte).
    Es waren weibliche Leichen; es hätte schwerlich Dr. Larchs Zwecken gedient – nämlich Homer Wells in geburtshilflichen Techniken und Techniken verwandter Art zu unterrichten –, seinen Schüler männliche Leichen untersuchen zu lassen. Es war immer ein Problem, sich eine Leiche zu beschaffen (einmal wurde eine in Wasser geliefert, das eigentlich Eis sein sollte; eine andere mußte beseitigt werden, weil die Balsamierungsflüssigkeit eindeutig zu alt oder zu schwach gewesen war). Homer erinnerte sich ganz deutlich an die drei Leichen. Erst bei der dritten hatte er genügend Sinn für Humor entwickelt, um ihr einen Namen zu geben; er nannte sie Clara, nach David Copperfields weinerlicher Mutter – dieser armen schwachen Frau, die sich und den kleinen David so sehr von dem schrecklichen Mr. Murdstone schikanieren ließ.
    »Nenn sie doch Jane«, empfahl Melony Homer; Melony war abwechselnd angewidert von Jane Eyre oder identifizierte sich völlig mit ihr.
    »Ich hätte sie Melony nennen können«, erwiderte Homer, aber Humor war bei Melony nicht zuverlässig vorauszusetzen, die lieber ihre eigenen Späße machte.
    Leiche Nummer zwei bot Homer die entscheidende Praxis, die ihn auf seinen ersten Kaiserschnitt vorbereitete; bei diesem hatte er Dr. Larchs Augen so fest auf seine Hände geheftet gefühlt, daß seine Hände nicht mehr seine eigenen schienen – sie bewegten sich mit so glatter Zielstrebigkeit, daß Homer sicher war, Larch verfüge über eine Methode, um diesen perfekten, nicht-größer-als-nötigen Einschnitt in den Uterus mit seinen Gedanken zu führen (ohne überhaupt Hände zu benötigen).
    Der leidenschaftliche Disput, der sich an der Bahnstation um die Ankunft jener Leiche entspann, die Homer Clara nennen sollte, vermittelte Homer seine erste Erfahrung mit eklamptischen Konvulsionen – oder Puerperalkrämpfen, wie man sie zu Wilbur Larchs Zeiten an der Bostoner Entbindungsanstalt nannte. Exakt im gleichen Moment, als Dr. Larch an der Bahnstation mit dem Bahnhofsvorsteher um die Freigabe der unglücklichen Clara stritt, versuchte Homer Wells in St. Cloud’s die untere Schilddrüsenvene an Leiche Nummer zwei exakt zu lokalisieren. Obwohl er das nicht wußte, hatte er doch eine gute Entschuldigung dafür, sich zeitweilig verirrt zu haben; Leiche Nummer zwei war so mitgenommen, daß vieles an ihr nur schwer zu lokalisieren war. Ein paar Minuten später hätte er seinen Gray konsultiert, aber gerade jetzt platzte Schwester Edna zu ihm herein und kreischte (wie immer, wenn sie Homer mit Leiche Nummer zwei erblickte; gerade so, als hätte sie ihn bei irgend etwas mit Melony ertappt).
    »Oh, Homer!« schrie sie, aber sie konnte nicht sprechen; sie fuchtelte wie ein aufgeregtes Huhn mit den Armen, bis es ihr gelang, Homer in Richtung der Apotheke zu weisen. Er rannte hin, so schnell er konnte, und fand eine Frau auf dem Boden liegen – ihre Augen starrten so wild und so ruhig blickleer, daß er sie zuerst für die Leiche hielt, die Dr. Larch, wie er wußte, aus der Hand des Bahnhofsvorstehers zu befreien suchte. Dann fing die Frau an, sich zu bewegen, und Homer begriff, daß sie kurz davor war, zur Leiche zu werden; die Krämpfe begannen mit einem Zucken in ihrem Gesicht, aber sie breiteten sich schnell aus über die ganze Skelettmuskulatur. Ihr Gesicht, das rot angelaufen war, wurde glänzend blauschwarz; ihre Hacken schlugen mit einer solchen Kraft auf den Boden, daß ihre Schuhe wegflogen – Homer sah gleich, daß ihre Knöchel riesig angeschwollen waren. Ihre Kiefer waren zusammengebissen; ihr Mund und ihr Kinn waren feucht von schaumigem Speichel, durchzogen von Blut, weil sie sich in die Zunge gebissen hatte – was immerhin günstiger war, als sie zu verschlucken. Ihr Atem ging schwer; sie stieß die Luft mit einem Zischen aus, und der Schaum spritzte ihm mit solcher Macht ins Gesicht, wie er es nicht mehr gespürt hatte, seit er vom Ufer zurückgetreten war und beobachtet hatte, wie die Winkles fortgeschwemmt wurden.
    »Eklampsie«, sagte Homer Wells zu Schwester Edna. Das Wort kommt aus dem

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