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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Griechischen; Dr. Larch hatte ihm erzählt, daß es sich auf die Lichtblitze bezieht, die eine Patientin beim Einsetzen der Puerperalkrämpfe sieht. Bei einer vernünftigen pränatalen Versorgung, das wußte Homer, war Eklampsie in der Regel vermeidbar. Die Symptome waren ein leicht erkennbarer Anstieg des Blutdrucks, Eiweiß im Urin, das Anschwellen von Händen und Füßen, Kopfschmerzen, Erbrechen und natürlich diese Punkte und Blitze vor den Augen. Bettruhe, Diät, reduzierte Flüssigkeitsaufnahme und ein leichtes Abführmittel taten in der Regel ihre Wirkung; und wenn nicht, beugte eine vorzeitige Einleitung der Wehen fast immer den Krämpfen vor und förderte oft einen lebenden Säugling zutage.
    Doch die Patientinnen, die Dr. Larch aufsuchten, kamen nicht wegen einer pränatalen Versorgung und hätten auch nicht gewußt, was das ist. Diese Patientin hier kam in allerletzter Minute, selbst nach Dr. Larchs Maßstäben.
    »Doktor Larch ist an der Bahnstation«, sagte Homer ruhig zu Schwester Edna. »Jemand muß ihn holen. Sie und Schwester Angela sollten dableiben, um mir zu helfen.«
    Beim Anheben der Frau und als er sie in den Entbindungssaal trug, spürte Homer ihre kalte, feuchte Haut, und er fühlte sich an Leiche Nummer eins und Leiche Nummer zwei erinnert (die letztere, fiel ihm ein, war auf dem Untersuchungstisch im Zimmer neben der Küche der Knabenabteilung liegengeblieben, das ihm derzeit für seine anatomischen Studien diente). Im vorigen Jahrhundert, das wußte Homer Wells, hätte ein Arzt dieser Patientin eine Äthernarkose gegeben und ihren Muttermund geweitet, um die Geburt einzuleiten – eine Methode, die in der Regel den Tod der Patientin nach sich zog.
    In der Bostoner Entbindungsanstalt hatte Wilbur Larch gelernt, den Herzmuskel mit Digitalisgaben zu stärken, was die Flüssigkeitsentwicklung in der Lunge zu unterbinden half. Homer lauschte dem wäßrigen Atem der Frau und erkannte, daß er zu spät kommen könnte, selbst wenn er sich richtig an die Technik erinnerte. Er wußte, daß man bei Eklampsie vorsichtig sein mußte; falls er gezwungen wäre, die Frau vorzeitig zu entbinden, mußte er die Wehen möglichst natürlich ablaufen lassen. Jetzt eben stöhnte die Frau; ihr Kopf und ihre Hacken knallten gleichzeitig auf den Operationstisch, ihr schwangerer Bauch schien zu schweben – und einer ihrer Arme flog willenlos, ohne absichtliche Richtung, empor und schlug Homer ins Gesicht.
    Er wußte, daß eine Frau mitunter nur eine Puerperalkontraktion durchmachte; es gab Berichte, wonach einige Patientinnen bis zu hundert überlebt hatten. Nur wußte Homer natürlich nicht, ob er gerade die zweite Konvulsion dieser Frau beobachtete oder ihre neunzigste.
    Als Schwester Edna mit Schwester Angela in den Entbindungssaal zurückkehrte, wies Homer die Schwestern an, der Patientin Morphium zu geben; Homer selbst injizierte Magnesiumsulphat in die Vene, um ihren Blutdruck wenigstens zeitweilig zu senken. In der Pause zwischen ihrer letzten und ihrer – wie Homer wußte – nächsten Konvulsion bat er Schwester Edna, der Frau eine Urinprobe abzunehmen, und er bat Schwester Angela, die Probe auf Eiweißspuren zu untersuchen. Er bat die Frau, ihm zu sagen, wie viele Konvulsionen sie bereits gehabt hatte; aber obwohl die Frau bei klaren Sinnen war und sogar Fragen vernünftig beantworten konnte, vermochte sie die Zahl der Konvulsionen nicht genau anzugeben. Bezeichnenderweise erinnerte sie sich nicht an die Konvulsionen selbst – nur an ihr Einsetzen und an die zehrenden Nachwirkungen. Sie meinte, noch mindestens einen Monat Zeit bis zur Geburt ihres Babys zu haben.
    Beim Einsetzen ihrer nächsten Konvulsion gab Homer der Frau eine leichte Äthersedation in der Hoffnung, dadurch die Macht des Anfalls zu lindern. Der Anfall verlief etwas anders als der vorige, obgleich er Homer nicht weniger heftig vorkam; die Bewegungen der Frau waren langsamer, aber – falls überhaupt möglich – noch kräftiger. Homer lag quer über ihrem Brustkorb, aber ihr Körper klappte plötzlich hoch – und hob ihn über den Operationstisch. In der nächsten Pause, während die Frau noch von der Äthersedation entspannt dalag, konnte Homer bei seinen Untersuchungen sehen, daß der Gebärmutterhals der Patientin nicht verkürzt, sein Mund nicht erweitert war; die Wehen hatten nicht eingesetzt. Er überlegte, ob er sie einleiten solle, und betete, daß er diese Entscheidung nicht treffen müßte, und fragte sich, wieso es so

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