Gottes Werk und Teufels Beitrag
Mitleid mit ihr, aber sie war eben keine von ihnen. Sie stand abseits, als fürchtete sie sich vor allen, als könnte jeder plötzlich auf sie losgehen und sie so arg verprügeln wie Vernon, als hätten ihr die vielen Schläge in ihrem Leben den nötigen Sinn für Humor geraubt, um von gleich zu gleich mit Florence und Irene Klatschgeschichten auszutauschen.
Grace Lynch war viel magerer und ein bißchen jünger als diese Frauen; ihre Magerkeit fiel auf unter den gewöhnlichen Marktfrauen. Sogar Herb Fowlers Freundin (Drückmich-Louise) war kräftiger als Grace, und Debra Pettigrew, Dot Tafts kleine Schwester – die in der Kuchensaison, wenn das Fließband zum Packhaus auf vollen Touren lief, ganz gewöhnlich arbeitete –, selbst Debra hatte mehr Fleisch am Leibe als Grace.
Und seit sie neue Zähne verpaßt bekommen hatte, preßte Grace ihre Lippen noch verbissener zusammen als früher; eiserne Konzentration lag in der schmalen Linie ihres Mundes. Wally konnte sich nicht erinnern, daß er Grace Lynch jemals hatte lachen sehen – und irgendeine Form von Lachenkönnen war nötig, um die Langeweile im Leben der Apfelmarktfrauen erträglich zu machen. Grace war einfach der geprügelte Hund unter ihnen. Sie sah nicht so aus, als fände sie Gefallen am Kuchenessen – oder überhaupt an irgendwelchem Essen. Sie rauchte nicht, und damals, 194–, rauchte jeder – sogar Wally. Sie war lärmempfindlich und zuckte zusammen, wenn sie in die Nähe von Maschinen kam.
Wally hoffte, daß sie lange Ärmel tragen würde, damit er die blauen Flecken an ihren Armen nicht sehen müßte, aber als Wally sie fand, steckte sie tief in einem der hinteren Fächer des Backofens; sie trug ein langärmeliges Hemd, hatte aber beide Ärmel bis über die Ellbogen aufgekrempelt, um das Hemd einigermaßen vor der Ofenschwärze zu schützen. Wally überraschte sie, mit dem Kopf und dem halben Oberkörper im Ofen, und Grace stieß einen spitzen Schrei aus und knallte, als sie vor Schreck zurückfuhr, mit einem Ellbogen gegen die Türangel.
»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, Grace«, sagte Wally rasch – es war schwer, in Graces Nähe zu kommen, ohne daß sie irgendwo anstieß. Sie sagte nichts; sie rieb sich den Ellbogen; sie verschränkte ihre mageren Arme, um ihre sehr winzigen Brüste zu verstecken, oder fuchtelte wild in der Luft herum, um ihre blauen Flecken zu verbergen. Sie wollte Wally nicht in die Augen sehen; so ausgeglichen Wally auch war, verspürte er stets eine furchtbare Anspannung, wenn er mit ihr zu sprechen versuchte; er hatte das Gefühl, sie könnte plötzlich wegrennen oder sich genausogut auf ihn stürzen – mit vorgereckten Krallen oder um ihn mit stoßender Zunge zu küssen.
Er überlegte, ob sie seinen unvermeidlich tastenden Blick nach den neuen blauen Flecken auf ihrem Körper als sexuelles Interesse mißdeutete; vielleicht war das ja eine Ursache für die Schwierigkeiten zwischen ihnen.
»Die arme Frau ist einfach verrückt«, hatte Ray Kendall einmal zu Wally gesagt; vielleicht war das alles.
»Grace?« fragte Wally, und Grace zitterte. Sie drückte einen Ballen Stahlwolle so fest zusammen, daß die schmutzige Seifenlauge an ihrem Arm hinabrann und ihr Hemd an der Taille und ihre grobe Arbeitshose über der knochigen Hüfte feucht wurde. Ein einzelner Zahn, wahrscheinlich ein falscher, trat aus ihrem Mund hervor und kniff ein winziges Stück ihrer Unterlippe. »Ähm, Grace«, sagte Wally. »Ich habe ein Problem.«
Sie starrte ihn an, als erschreckte sie diese Nachricht mehr als alles, was sie je gehört hatte. Sie schaute schnell weg und sagte: »Ich mache den Ofen sauber.« Wally dachte, er müßte sie festhalten, damit sie nicht auf der Stelle in den Ofen zurückkroch. Plötzlich wurde ihm klar, daß seine Geheimnisse – daß überhaupt jedes Geheimnis – bei Grace Lynch ganz sicher waren. Es gab absolut nichts, was sie zu erzählen gewagt hätte, und niemanden in ihrem Leben, dem sie es hätte erzählen können – selbst wenn sie sich getraut hätte.
»Candy ist schwanger«, sagte Wally zu Grace, die wankte, als sei Wind aufgekommen – oder als hätten die starken Ammoniakdämpfe des Ofenreinigers sie überwältigt. Wieder schaute sie Wally an, aus kugelrunden Kaninchenaugen.
»Ich brauche einen guten Rat«, sagte Wally zu ihr. Er dachte daran, daß für Grace, wenn Vernon Lynch ihn hier mit ihr sprechen sähe, wahrscheinlich die nächste Tracht Prügel ins Haus stand. »Bitte, sage mir
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