Gottes Zorn (German Edition)
wohl …»
Sie streckte den Arm aus und schaltete das Autoradio ein. Janis Joplin sang mit heiserer und schöner Stimme: «Summer … time …» Fatima stellte die Lautstärke leiser.
Als sie auf die Landstraße abbogen und Smedstorp passierten, wiederholte Joel seine Frage noch einmal. «Aber warum?»
«Man hat ihn wahrscheinlich einer Gehirnwäsche unterzogen. Er faselt etwas von der einzigen Wahrheit. Von der scheint er gedanklich besessen zu sein.»
«Ich wurde auch einmal einer Gehirnwäsche unterzogen», murmelte Joel.
«Sie?»
Er wand sich unruhig und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
«Haben Sie sich irgendwann schon einmal so richtig einsam gefühlt, ganz allein in einem unendlichen Universum?», fragte er schließlich.
«Schon oft.» Nahezu immer, war sie kurz davor hinzuzufügen, schwieg jedoch.
«Es war, als ich von Mårten abgehauen bin», erklärte Joel. «Ich bin durch Zufall mit diesen Menschen zusammengekommen. Im Nachhinein habe ich sie immer als Sekte angesehen. Ich war gerade mal achtzehn, und sie haben sich um mich gekümmert. Sie waren … religiös. Hatten sich Häuser mitten im Wald errichtet. Waren auf ihre Art nett. Aber sie waren ebenfalls von einer einzigen Wahrheit besessen. Und zwar von ihrer eigenen.»
«Und was ist geschehen?»
«Ich bin eines Tages aufgewacht und habe Todesangst bekommen. Also bin ich abgehauen und nach Kopenhagen rüber.»
Als Fatima sich ihm erneut zuwandte, wurde sie ohne Vorwarnung in seine weit geöffneten grünblauen Augen hineingezogen und von dem starken Wunsch ergriffen, ihn zu berühren. Eine heftige Lust übermannte sie, das Bremspedal durchzutreten, mit quietschenden Reifen am Straßenrand zum Stehen zu kommen, sich den Sicherheitsgurt vom Leib zu reißen und sich auf ihn zu stürzen. Ihn zu umarmen und sein schönes lädiertes Gesicht mit ihren Fingern zu streicheln, während sie ihm versicherte, dass sie mindestens ebenso viel Angst vor dieser verdammten einzigen Wahrheit hatte wie er, und ihn dann lange und genussvoll zu küssen, sich vollständig zu öffnen und ihn dazu zu bringen, dieses sprudelnde Lachen von sich zu geben, von dem sie wusste, dass er es in sich trug.
Doch Fatima presste die Kiefer aufeinander. Wechselte lediglich ihren Griff ums Lenkrad.
Sie schaltete die Temperatur der Lüftung herunter. Schielte heimlich zu ihm hinüber. Merkte er, dass sie unter ihrer Lederjacke zu schwitzen begonnen hatte?
«Ich habe heute Morgen sein Testament gelesen», sagte Joel.
«Mårtens?»
Sie fuhr sich mit einem benutzten Papiertaschentuch, das im Seitenfach gelegen hatte, über die Stirn.
Joel nickte. «Er hat geschrieben, dass er sein Leben lang Angst gehabt hatte. Dass die Angst möglicherweise die Wurzel seiner Bosheit war. Und dass er hoffte, sie mir nicht vererbt zu haben.»
«Bosheit … was bedeutet das eigentlich?»
Als sie die Frage gerade ausgesprochen hatte, donnerte auf der Gegenfahrbahn ein Sattelschlepper vorbei, der eine ordentliche Ladung Schneematsch auf ihre Windschutzscheibe spritzte, woraufhin das gesamte Auto vibrierte. Fatima fluchte und steuerte den Wagen an den Straßenrand. Sie blieben an einer Bushaltestelle mitten im Nirgendwo stehen. Die Wischerblätter schoben die braune Brühe auf der Scheibe hin und her. Sie schaltete sie ab, um das Quietschen nicht mehr hören zu müssen.
Im Radio flüsterte Joplin: «Summer … time …»
Plötzlich berührte Fatima in einem unvermittelten Impuls die Wunde an seiner Stirn mit den Fingerspitzen.
«War er denn boshaft?», fragte sie.
Als er wie vor einem Schlag nach hinten wich, zog sie erschrocken ihre Hand zurück. Es kam ihr vor, als hätte sie sich verbrannt. Eine ganze Weile lang starrte er sie mit diesem erstaunten Ausdruck in den Augen an.
«Ich habe es immer gedacht», antwortete er unsicher. «Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Kein Mensch kann doch wohl durch und durch böse sein, oder?»
Fatima schüttelte den Kopf.
«Nein, weder böse noch gut.»
«Er äußerte den Wunsch, dass seine Asche in alle Winde verstreut wird», sagte Joel leise. «Damit er endlich frei sein kann.»
Eine ganze Weile saß sie unschlüssig mit den Händen auf den Oberschenkeln da. Aus irgendeinem Grund ging ihr die ganze Zeit ein und derselbe Gedanke durch den Kopf: Du bist Polizistin, Fatima. Denk daran, dass du Polizistin bist!
Schließlich drehte sie sich nach hinten um und zog ein schmutziges Handtuch hinterm Fahrersitz hervor. Sie öffnete die
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