Gottes Zorn (German Edition)
Landkrabbe sich so macht!», rief der Fischer belustigt und hielt sich wie ein Rodeo-Reiter am Steuer fest, während das Boot den sich aufbäumenden Wellen entgegenstampfte. Joel wurde seekrank und musste wie ein Reiher kotzen. Vierundzwanzig Stunden lang stand er im tosenden Sturm an Deck, klammerte sich verzweifelt an eine Leiter und wünschte sich, er wäre tot. Als er schließlich völlig durchnässt und mit Erbrochenem besudelt über den Steg wankte, war ihm klar, dass er nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt war, um Berufsfischer zu werden. Doch sein Traum, die Sehnsucht nach dem offenen Meer, war noch immer lebendig.
Als er sich in Bewegung setzte, erblickte er weit draußen auf dem äußersten Pier eine einsame Gestalt. Es war der einzige Mensch weit und breit. Joel blinzelte im Gegenlicht. Ein Junge stand mit dem Rücken zum Land da und schien aufs Meer hinauszuspähen.
Wartete er auf jemanden?
Die Neugier ließ Joel neben einem Schuppen innehalten, ohne seinen Blick von dem Jungen loszureißen. Wenn er da draußen so unbeweglich stand, musste er ja entsetzlich frieren. Hinter dem Pier war eine weiße Eisfläche zu erkennen, doch weiter draußen leuchtete das Meer in der schrägstehenden Wintersonne blau.
Aber wessen Kommen sollte er dort erwarten?
Ich muss mit ihm reden, dachte Joel.
Im selben Augenblick sah er, dass sich der Junge umdrehte und in Richtung Land schaute. Sein Gesicht konnte er nicht erkennen, doch es schien, dass er ungefähr dort, wo Joel stand, nach etwas suchte.
Dann hob er die Hand und winkte.
Joel blickte sich um. Außer ihm war niemand zu sehen.
Er winkte rasch zurück.
«Warte, ich komme!», rief er.
Der Junge gab keinen Laut von sich. Er stand einfach nur da, am äußersten Ende des langen steinernen Piers. Die Hand hatte er wie zum Abschied in die Luft gereckt.
«Warte!», rief Joel erneut.
Nur ungern ließ er den Jungen aus den Augen, um den kürzesten Weg zum Pier auszumachen. Das Hafenbecken zwischen ihnen schnitt sich tief ins Land hinein. Joel eilte im Laufschritt an der Kaikante entlang, wobei er immer wieder zwischen Masten und Kränen, Schiffsrümpfen und gestapelten Fischkisten hindurchzuspähen versuchte, um den Jungen im Blick zu behalten.
«Warte bitte auf mich …», keuchte er, während er lief.
Jetzt sah er, dass die kleine schwarze Figur den Arm wieder heruntergenommen hatte. Wirkten seine Schultern nicht irgendwie eingesunken, als wäre er kurz davor aufzugeben? Joel sprang über einen Haufen Tauwerk und lief schneller.
Als er den inneren Bereich des Hafens umrundet hatte und auf die Hafenmole zusteuerte, sah er, dass der Junge auf die äußeren Steinblöcke, die als Wellenbrecher dienten, hinauskletterte. Kurz darauf war er verschwunden.
Der Pier war vereist und glatt. Joel rutschte aus, verlor das Gleichgewicht und war kurz davor zu fallen. Als er sich wieder gefangen hatte, zwang er sich, vorsichtiger über die gespaltenen Betonblöcke zu balancieren. Voller Unruhe hielt er abwechselnd nach dem Jungen und irgendeinem anderen Menschen an Land Ausschau, der ihm helfen könnte, doch weder am Fischereikai noch in Richtung der Kneipe oder des Kiosks im Hafengebiet erblickte er jemanden.
War er denn ganz allein?
Der äußerste, weiß angestrichene Teil des Piers war mit Möwendreck übersät. Doch es waren keine Vögel zu sehen. Und auch kein Junge. Versteckte er sich etwa irgendwo?
Joel hatte jetzt freie Sicht auf die Seeseite des Wellenbrechers, doch so sorgfältig er die schwarzen Hohlräume zwischen den Steinblöcken auch absuchte, er konnte nirgends Spuren von Leben entdecken. Verwirrt kletterte er weiter, bis er einsehen musste, dass der Junge verschwunden war. Sein Herz wurde von einer eiskalten Faust umschlossen.
War er etwa hinausgelaufen und ertrunken?
Doch so weit er blicken konnte, lag der Schnee weiß und unberührt auf dem Eis. Keine Fußspuren. Kein dunkles Eisloch.
***
A uf dem Weg zurück gelang es Joel, im Autoradio den Bornholmer Kanal hereinzubekommen, der dänischen Hardrock spielte.
Joel wusste nicht recht, was er von seinem Erlebnis vorhin halten sollte.
Natürlich hatte er die Polizei gerufen. Ein Krankenwagen und zwei bedächtige Polizeibeamte waren aufgetaucht. Sie waren auf den Pier hinausgegangen und hatten ihn dann pflichtschuldig vernommen.
«Es sind keine Spuren zu sehen», sagte der eine.
«Uns ist kein verschwundener Junge gemeldet worden», versicherte ihm der andere.
Joel hatte ihre zweifelnden Mienen
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