Gottesdienst
Armreifen.
»Wie wär’s mit einem Spaziergang am Strand?«, fragte ich.
Beim Arroyo Burro wanderten wir unterhalb der steilen Klippe barfuß über den nassen Sand. Kalt umspielte die Gischt unsere Knöchel. Ein einsamer Surfer kurvte durch die glitzernden Wellen. Der Tag war wie auf Hochglanz poliert. Lange Zeit sagte keine von uns ein Wort.
Dann kehrten meine Gedanken wieder zur Kirche der Standhaften zurück. Woher kam ihr hysterisches Weltbild? War allgemeine Unzufriedenheit dafür verantwortlich oder einfach ihre Leichtgläubigkeit? War ihr Leben so leer, dass sie ihren Kick nicht vom Linedancing oder Wildwasser-Rafting bekamen, sondern sich selbst zu Handlangern des Schicksals stilisieren mussten?
»Wusstest du, dass Mutter den Strand gehasst hat?«, fragte Nikki. »Sie wuchs auf einer Tropeninsel auf, lebte hier fünfundzwanzig Jahre und konnte Sand einfach nicht ausstehen.«
Sie lächelte, und wir begannen in Erinnerungen zu schwelgen, sprachen über Claudines Eigenarten und über ihren scharfen Verstand. Darüber, dass sie auch nach der Aids-Infektion, die sie sich bei einer späten Affäre mit einem früheren Liebhaber aus Haiti zugezogen hatte, ohne jede Verbitterung blieb. Schließlich begann Nikki noch einmal die Beerdigung Revue passieren zu lassen. Als sie über die Demonstranten sprach, blieb ich still. Sie sah mich an.
»Irgendwie bist du so weit weg. Ist was?«
Ich wollte gerade den Kopf schütteln, aber da deutete sie auch schon auf die Schnitte an meinen Händen und runzelte die Stirn. »Raus damit. Ich kann Ablenkung vertragen.«
Erstaunt und befremdet lauschte sie meinem Bericht. »Hat Tabitha noch alle Tassen im Schrank? Dass sie wegen ihrer Scheidung einen Hass auf sämtliche Männer schiebt, könnte ich ja noch verstehen, aber dass sie einer Sekte beitritt, die behauptet, ihr Mann sei ein Handlanger des Satans – das ist schon sehr extrem.«
Die Anti-Militär-Einstellung der Standhaften, erklärte ich, war wohl einer der Gründe, die Tabitha angezogen hatten. Ein anderer war Pastor Petes Theorie über die Endzeitlügen.
Tabithas Mutter, SueJudi Roebuck, hatte einer Kirche angehört, die den Eintritt in die Glückseligkeit zum Pfingstfest des Jahres 2000 vorhergesagt hatte. Als das nicht geschah, zerbrach ihre Welt. Sie fühlte sich betrogen und spirituell heimatlos und stürzte schließlich immer tiefer in eine Spirale der Depression, der sie nicht wieder entrinnen konnte. Eine teuflische Verschwörung musste Tabitha als einleuchtende Erklärung für die Verzweiflung ihrer Mutter erscheinen.
»Aber Peter Wyoming hat die Realität einfach umgedreht«, sagte ich. »Die Tatsache, dass die Welt noch nicht untergegangen ist, beweist für ihn nur, dass es bald passieren muss. Völlige Normalität beweist die Existenz einer Verschwörung des Satans.«
»Sie sind paranoid, Ev. Paranoide denken so.«
»Der Mangel an Beweisen ist der Beweis. Die Stille schreit sie an.«
»Stille muss aber nicht immer Tatenlosigkeit bedeuten. Sie kann auch eine Verschleierungstaktik sein. Und sei nicht so voreilig mit deiner Verurteilung von Verschwörungstheoretikern. Sie fechten Autorität an, und das ist was Gutes. Du brauchst Leute, die die Aussagen der Regierenden und der aalglatten Industriemanager infrage stellen.«
»Die Rufer in der Wüste.«
»Genau. Peter Wyoming mag sich anhören wie ein Übergeschnappter, wenn er von Anthrax-Impfungen und der Endzeitlüge des Teufels spricht, aber die Aussagen des Pentagon sollte man auch nicht beim Wort nehmen. Glaubst du wirklich, dass unsere Soldaten nur mit einem Raketenwerfer und einem Impfserum gegen den nächsten heiligen Mann in den Krieg ziehen? In den Fünfzigern führte die CIA an GIs Experimente mit LSD durch. Und die Armee versprühte Bakterien in der Luft über San Francisco – angeblich, um zu testen, wie groß die Widerstandskraft gegen biologische Kriegsführung im Bedrohungsfall sein könnte. Ja, klar. Wer führt hier Krieg, und gegen wen? Es waren amerikanische Bürger, die davon krank wurden.« Sie schürzte die Lippen. »Pastor Pete hat die geheimen Missionen nicht erfunden.«
Das hatte sie wohl von ihrem Vater gelernt, einem marxistischen Politikprofessor. Ganz egal, wie schlecht es ihr ging, ich konnte mich immer darauf verlassen, dass Nikki die verbreiteten Binsenweisheiten infrage stellte. Das war einer ihrer liebenswertesten Wesenszüge.
»Außerdem bringt Paranoia das Blut in Wallung und sorgt dafür, dass sich kleine Menschen
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