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Gottesdienst

Titel: Gottesdienst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Gardiner
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nicht einzureden, dass alles wieder gut würde. Ich schenkte mir noch einen Drink ein.
    »Wie willst du es Luke beibringen?«, fragte er.
    Ich hatte nicht vorausgesehen, dass er so starke Gefühle für meinen Neffen entwickeln würde. Aber so war Jesse, der Unberechenbare – bei Erwachsenen ein Hohepriester des Zynismus, aber für Kinder hatte er ein Händchen. Er war geradeheraus, er ermutigte sie, und sie fühlten sich wohl bei ihm. Er hörte ihnen zu und brachte sie dazu, ihm zuzuhören. Luke hatte er das Schwimmen beigebracht und ihn gelehrt, das Wasser genauso zu lieben wie er. Vor dem Unfall war er ein Weltklasseschwimmer gewesen. Ich musterte ihn, mit seinen blauen Augen, dem langen Haar und dem Ohrring, der etwas von seiner Piratenpersönlichkeit verriet. Er war auffallend hübsch und fünf Jahre jünger als ich, aber sein Gesicht war seinem Alter voraus. Seine Augen waren klar wie Eis und frei von jeglichen Illusionen.
    Ich strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Er drückte meine Finger und ließ die Handflächen über meinen Arm gleiten.
    »Autsch.« Wir zuckten beide zusammen, er betrachtete seine Handfläche, wo sich ein Blutstropfen gebildet hatte. Glassplitter von meinem Ärmel. »Ich geh wohl besser duschen«, sagte ich.
    Zehn Minuten später stand ich im Schlafzimmer und knöpfte mir gerade meine saubere Bluse zu, als ich ihn rufen hörte. »Du bist im Fernsehen.« Ich lief ins Wohnzimmer, wo er auf dem Sofa saß und sich gerade nach der Fernbedienung streckte. Er stellte den Ton lauter. Ich konnte meine Stimme hören und wie ich Peter Wyoming mit Bibelzitaten konfrontierte. Es war ein Bericht von Claudines Beerdigung. Nach den Ereignissen des Abends kam mir dieser Zusammenstoß ziemlich unerheblich vor.
    »Gut gemacht, Delaney«, lobte mich Jesse.
    Er griff nach meiner Hand, schlang dann seine Arme um mich und küsste mich. Immer wieder. Das gehörte zu meinen persönlichen Top Ten, zum Besten an ihm – die Leidenschaft, mit der er mir zeigte, dass ich das Richtige getan hatte. An ihn geschmiegt tankte ich in seiner Umarmung neue Kraft.
    Als ich ihn zum ersten Mal traf – noch vor seinem Unfall -, hielt ich ihn für einen dieser uramerikanischen Modellathleten, die von gutem Aussehen, Verstand und sportlichem Erfolg gesegnet ihr Leben meistern. Mit anderen Worten: Ich hatte keine Ahnung. Es brauchte einige Katastrophen, bis ich etwas von seiner Entschlossenheit und Durchsetzungskraft erfuhr und seine schon fast unheimliche Fähigkeit kennenlernte, mich an genau den richtigen Stellen zu berühren. Ich küsste ihn erneut und ließ meine Hände über seine Arme und den Rücken wandern. Er hatte den Oberkörper eines Schwimmers, Arme und Schultern wie aus Eiche geschnitzt. In den letzten Jahren waren sie durch die Doppelbelastung noch stärker geworden. Hier fand ich Schutz, wenn ich welchen brauchte.
    »Ich wünschte, ich könnte bleiben«, sagte er.
    »Ich weiß.«
    Er würde nicht bleiben. Am nächsten Morgen hatte er in aller Frühe einen Gerichtstermin, außerdem wohnte er nicht in der Nähe, hatte keine frischen Klamotten dabei und auch nicht seine Schmerzmittel, auf die er angewiesen war. Seine Rückenverletzung bedeutete unter anderem auch, dass alles etwas länger dauerte. Spontanität gehörte nicht mit zum Paket. Nichtsdestotrotz fuhr er mir mit den Fingern durch das Haar und küsste mich im Nacken. Ich spürte, wie sein Atem über die Stelle strich, an der meine Bluse vorne aufklaffte, wie er den obersten Knopf mit den Zähnen öffnete und wie seine Lippen über meine Haut streiften.
    Und dann hörte ich hinter mir eine leise Stimme. »Ich hab Durst.«
    Ich zuckte zusammen, Jesse fuhr hoch. Luke stand mit zusammengekniffenen Augen in der Tür.
    Ich zögerte, aber ich wusste, dass er nicht mit leeren Händen zurück ins Bett gehen würde. Also stand ich auf und holte ihm ein Glas Milch. Als ich zurückkehrte, hatte er sich neben Jesse aufs Sofa gekuschelt. Schläfrig trank er seine Milch. Schließlich nahm ich ihn bei der Hand. »Jetzt aber zurück ins Bett.« Er drückte sich an Jesses Brust und ignorierte mich.
    »Komm, ich lass dich mitfahren.« Jesse rutschte auf den Rollstuhl und klopfte auf seine Oberschenkel. »Einsteigen, kleiner Mann.« Luke kletterte auf seinen Schoß.
    Kurz nachdem er Luke ins Bett verfrachtet hatte, machte er sich auf den Heimweg. Ich brachte ihn noch bis zu seinem Auto, in dem Handhebel die Pedale ersetzten, und beobachtete, wie er sich hineinwand. Mit

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