Gottesdienst
ganz groß fühlen«, fügte sie hinzu. »Stell dir mal vor, wie wichtig sich Tabitha vorkommen muss – sie erwartet die absolute Katastrophe, und ihr kleiner Stamm steht genau im Zentrum.«
»Der Weltuntergang als Aufputschmittel für das Selbstbewusstsein – so hab ich das noch nie betrachtet.«
»Die Apokalypse – wenn man mal darüber nachdenkt, ist das eine sehr aufregende Vorstellung.«
Erstaunt blieb ich stehen.
Sie zitierte, während sie langsam weiterging. »›Also auch der Himmel, der jetzt ist, und die Erde werden durch sein Wort gespart, dass sie zum Feuer behalten werden auf den Tag des Gerichts und der Verdammnis der gottlosen Menschen. ‹«
»Süße, setz dich lieber mal hin und entspann dich.«
»›Wir aber warten eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach seiner Verheißung, in welcher Gerechtigkeit wohnt.‹« Sie drehte sich um und schaute mich zufrieden an. »Mein Paps hat ein Buch über utopische Gesellschaftskonzepte geschrieben. Zum Feuer behalten. Aus einer atheistischen Perspektive, aber den Titel hat er natürlich aus der Bibel.«
Jetzt kam sie wieder zu mir zurück. »Die letzten Tage, Evan, das bedeutet nicht die Zerstörung der Erde, sondern den Umsturz der alten Weltordnung. Das neue Jerusalem ist ein Synonym für: Lang lebe die Revolution. Wir reden vom Anbruch eines Zeitalters, in dem Gerechtigkeit herrscht, wo es keine Armut, kein Leid und keinen Tod gibt. Und das ist eine ziemlich verlockende Vorstellung, das kannst du mir glauben.«
»Aber nur wenn du zu den Auserwählten gehörst.«
»Wenn es deine Apokalypse ist, gehörst du immer zu den Auserwählten. Darum geht es doch. Alle, die du hasst, sind vom Angesicht der Erde vertilgt, verbrannt im reinigenden Feuer.«
Wasser umspielte ihre Knöchel und floss wieder zurück. »Aber die Apokalypse hat nichts mit Rache zu tun, sondern mit Hoffnung. Ganz egal, wie schrecklich die Dinge stehen, Gott wird am Ende gewinnen. Das Gute ist stärker als das Böse.« Sie hielt inne und streckte ihre Hände aus. »Wovor hast du also Angst?«
Jetzt hatte sie mich erwischt. Um noch einen draufzusetzen, stemmte sie die Hände in die Hüften und fragte mit komischer Übertreibung: »Liebst du denn Jesus nicht, junge Frau?«
Ihre braunen Augen nagelten mich fest. Sie erwartete eine ernsthafte Antwort. All meine flotten Sprüche schienen mir auf der Zunge zu vertrocknen. Ich starrte nach unten in den Sand.
Nach ein paar Sekunden winkte sie geringschätzig ab und ging weiter. »Ach, du hast einfach keinen Blick für die schönen Seiten, weil du so viel Zeit damit verbringst, dir Katastrophen für dein Buch auszudenken.«
Mein Roman Lithium Sunset spielte in einer dunklen Zukunft nach einem Weltkrieg. Eine totalitäre Armee hat das Volk meiner Hauptprotagonistin unterworfen. Überlebende auf beiden Seiten hatten in der thermonuklearen Auseinandersetzung üble Verbrennungen und genetische Schäden davongetragen. Mutationen und rituelle Massenselbstmorde waren an der Tagesordnung.
»Massenvernichtung ohne Sinn und Zweck – das ist eine Popkultur-Apokalypse, Ev.«
»Ja, mach mich nur fertig.«
Sie grinste. »Obwohl, auch in deiner radioaktiven Prärie gibt es Überlebende. In deinem Roman geht es nicht um Auslöschung, sondern um Durchhaltevermögen. Gut, die Figuren sind durch den Wind, sie trinken zu viel und ziehen sich die Scheißmusik von Patsy Cline rein, aber sie geben nicht auf, sie kämpfen weiter. Du schreibst gern über Leute, die mit dem Rücken zur Wand stehen. Die Neunhundert-Megatonnen-Bombenkrater in der Landschaft geben da nur die passende Kulisse ab.«
Ich lächelte ebenfalls. Es war schön, dass das Leben in ihre Stimme zurückkehrte.
»Es ist doch so: Science-Fiction gibt dir die Möglichkeit, völlig neue Welten zu entwerfen. Deswegen magst du dieses Genre. Am Anfang fragte sich Gott: ›Aber hallo! Was denke ich mir heute aus?‹ Das ist doch ein ziemlicher Kick, oder nicht? Du liebst das Schöpferische mit all seinen Möglichkeiten, du bist nur zu bedrückt, um es zu bemerken.«
»Also bin ich diejenige, die Trübsal bläst, während die Standhaften die wahren Optimisten sind?«
»Wirklich paradox, oder?«
Ich legte ihr den Arm um die Schultern.
»Natürlich gibt es da noch das Lieblingszitat meines Papas, das von Blaise Pascal stammt: ›Niemals tut der Mensch das Böse so vollkommen und fröhlich, als wenn er es aus religiöser Überzeugung tut‹. Pass bloß auf, wenn es so weit ist und die Standhaften
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