Gottesdienst
Einbruch der Nacht war es deutlich kühler geworden. Als Jesse davonfuhr, stand ich allein vor dem Haus. Ein kalter Wind umwehte meine Schultern.
Es wurde Herbst. Ich war zu müde, mich gegen die Bilder in meinem Kopf zu wehren. Veränderungen standen mir bevor. Ich hatte Angst, dass sie mich zurücklassen würden wie einen Baum, der seine Blätter verloren hat.
Eigentlich ging es mir gut: Ich hatte Geld auf der Bank, und mein Roman sollte demnächst beim Buchfestival der Stadt vorgestellt werden. Ich hatte sogar einen Mann, der mich liebte. Aber wenn Luke erst mal weg war, wurde ich auch mit anderen Aspekten meiner zusammengeflickten Freiberufler-Existenz konfrontiert. Ich hatte einen Job am Gericht, bei dem ich um die kleinsten Brocken kämpfen musste. Ich hatte einen Liebhaber, der nicht über Nacht blieb. Und in meinem Haus hatte ich ein Zimmer, das bald leer stehen würde.
Ich schlurfte zurück. Kurz vor meinem Haus blieb ich stehen und sammelte das Spielzeug auf, das Luke draußen hatte liegen lassen. Die Actionfiguren aus »Krieg der Sterne« – Qui-Gon Jin, Darth Maul, ich kannte ihre Namen besser als die der zwölf Apostel – waren Teil der geheimnisvollen Welt eines Kindes, von der ich erst vor kurzem erfahren hatte. Genau wie ich gelernt hatte, dass Essstäbchen in der Nase eines kleinen Jungen zwar furchterregender aussehen als Schokobonbons, aber leichter herauszuziehen sind.
Ich legte den Kopf in den Nacken. Die Sterne verschwammen am Himmel. Das war ein alter Kindertrick: den Kopf zurücklehnen und die Tränen zurück in die Drüsen fließen lassen. Ich wein ja gar nicht. Ich schau mir nur die Flugzeuge an, Tante Evvie.
»Scheiße«, entfuhr es mir, dann ging ich nach drinnen, bevor mir die Augen überliefen.
Am Morgen erzählte ich Luke nichts von Tabitha, um ihn nicht schon vor der Schule zu beunruhigen. So richtig wach wurde er erst, als er seine Frisur im Spiegel sah. »Oh Mann, ist ja alles verstruppelt.« Diese Krise trat fast täglich auf. Kämmen half überhaupt nichts, also musste ich seinen Kopf unter den Wasserhahn halten. Wir verließen das Haus mit Verspätung und waren immer noch einen Block von der Schule entfernt, als wir es zur ersten Stunde läuten hörten. Mit entschlossenem Gesichtsausdruck und hoppelndem Rucksack spurtete er zum Schultor.
Den Morgen verbrachte ich mit der Fallrecherche für eine Rechtsmittelbelehrung. Ich verglich Präzedenzfälle mit der Westlaw-Suchmaschine, bis ich die wichtigsten gefunden hatte. Mehrmals versuchte ich meinen Bruder zu erreichen – ohne Erfolg. Außerdem rief ich im Krankenhaus an, um mich über den Zustand des Eindringlings von gestern Abend zu informieren, doch sie weigerten sich, mir irgendwas zu sagen, ich erfuhr nicht mal seinen Namen. Mich beschlich das Gefühl, dass seine Überlebenschancen nicht sehr groß waren.
Ich konnte keine Ruhe finden und fuhr in die Stadt zur Bibliothek von Santa Barbara. Ich wollte sehen, was dort über die Standhaften zu erfahren war, wollte Tabithas neue Freunde – was waren sie überhaupt? Seelenverwandte? Strippenzieher – auskundschaften. Wenn sie mir wiederbegegnete, wollte ich wissen, mit wem ich es zu tun hatte.
Die Bibliothek war ein luftiges Gebäude im spanischen Stil, das dem Gericht gegenüberlag. An der Fassade warb ein großes Banner für das Santa-Barbara-Buchfestival. Der Gedanke daran verschaffte mir Auftrieb, aber als ich die Mikrofilm-Zeitungsarchive nach Informationen über die Standhaften durchsuchte, war es um meine gute Laune auch schon wieder geschehen.
Die Kirche, so erfuhr ich, war gerade mal fünf Jahre alt. Davor hatte Peter Wyoming eine Teppichreinigung betrieben. Als er seine Berufung in den geistlichen Stand verspürte, verkaufte er seine Dampfreinigung, begann in aller Öffentlichkeit Leute zu beschimpfen und legte sich eine Anhängerschaft zu – sowie eine Ehefrau. »Peter Wyoming heiratet Chenille Krystall«, verkündete eine Heiratsanzeige. Sie trug nicht nur einen besonderen Namen, sie war dem Foto nach zu urteilen auch eine besondere Braut, die stolz und siegessicher mit einem jungfräulich weißen Stetson posierte: die Solosängerin aus dem Chor. Weitere Artikel berichteten von Protestaktionen der Standhaften bei den Beerdigungen eines Hindu-Studenten, der von einem Pferd gestürzt, und eines Homosexuellen, der ermordet worden war. Aus der Liste ihrer Aktionen konnte ich nichts lernen, was ich nicht schon wusste.
Ich verließ die Bibliothek und ging
Weitere Kostenlose Bücher