Gottesdienst
Augen. »Hören und Sehen, jawohl. Ich werde bei Gericht einen entsprechenden Antrag vorlegen.«
Luke kam zurück ins Zimmer gerannt, in den Händen eine komplizierte Konstruktion aus Bindfaden, Legosteinen und Klebeband. »Das gab’s noch nie, das ist eine Dispension.«
Jesse streckte Hand aus. »Toll, und was kann man damit anfangen?«
»Es kann ein U-Boot sein oder ein Jet. Und da ist das Armaturenbrett.«
»Jesse -«, begann ich, aber sein strafender Blick brachte mich zum Verstummen. Er unterhielt sich mit Luke über die Erfindung und stellte ihm ganz ernsthaft Fragen dazu. Ich wandte mich wieder der Zeitung zu. Das also hatte den ganzen Abend an ihm genagt.
»Was ist das da?«, fragte er Luke gerade.
»Weiß ich nicht. Das lag auf meinem Bett.«
»Hat das einer deiner Freunde dort vergessen?« Seine Stimme hatte jede Unbeschwertheit verloren.
Ich drehte mich um. Luke hielt eine kleine Dornenkrone aus glänzendem Stacheldraht von der Größe eines Armreifs in der Hand. Mich durchfuhr es eiskalt. Ich nahm ihm das Ding aus der Hand.
»Es ist spitz. Pass auf, dass du dich nicht stichst«, sagte Luke.
An der Dornenkrone hing ein Zettel, auf dem stand: Lasst die Kinder zu mir kommen! Wehrt ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes.
Jesse und ich schauten uns an. Mit der Krone in der Hand lief ich in Lukes Zimmer. Es wirkte aufgeräumt. Nein, es war makellos – krankhaft sauber, fast steril. Mein Atem ging schneller. Luke hatte das nicht getan. Jemand musste hier drin gewesen sein. Dann bemerkte ich seinen Bären, den mit dem Totenkopf-Aufnäher. Ein Zettel klemmte an seiner Brust. Festgesteckt mit einer Nadel wie bei einer Voodoo-Puppe: Alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.
Ich flüchtete aus dem Zimmer. Jesse unterhielt sich immer noch mit Luke über seine Dispension. Er versuchte, Luke nichts von meiner Aufregung spüren zu lassen. Rasch ging ich in mein Schlafzimmer, schaltete das Licht an und hätte beinahe aufgeschrien: Auf meinem Bett lag ein menschlicher Körper. Ich musste mich am Türrahmen abstützen. Ein paar Sekunden später sagte Jesse meinen Namen.
Ich holte tief Luft. »Wir verbringen die Nacht bei dir.«
Luke sprang vom Sofa auf und kam zu mir. »Was ist denn los?«
Ich packte ihn bei den Schultern und drehte ihn ziemlich grob herum, weg von meinem Schlafzimmer. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Tante Evvie, was ist denn los?«
»Ihr zwei geht jetzt. Sofort.«
Jesse stellte keine Fragen. »Komm, kleiner Mann. Vergiss deinen Rucksack nicht.«
Aber Luke würde seine Hausaufgaben nicht brauchen. Ich hatte nicht vor, ihn am nächsten Tag in die Schule zu schicken. Genauso wenig würde er in mein Haus zurückkehren oder nach Sonnenaufgang in Santa Barbara bleiben. Ich musste ihn nach China Lake bringen.
Auf meinem Bett auf der Patchworkdecke lag eine lebensgroße Aufblaspuppe. Sie war nackt bis auf einen Hexenhut und eine Gummimaske mit einem Hundegesicht. In ihrer linken Hand lagen herausgerissene Seiten aus meinem Buch. Sie waren als Toilettenpapier benutzt worden. Zwischen den Beinen klebten benutzte Kondome und stinkender Hundekot.
Zwischen den anatomisch korrekt geformten Brüsten hatte jemand mit Hundekot SPIONIN geschrieben. Auf dem Nachttisch neben meinem Bett lag das hölzerne Kruzifix, das mir meine Großmutter geschenkt hatte. Die Jesusfigur war mit einem Hammer herausgehauen und zusammen mit einer Notiz über mein Bett genagelt worden: Die Feigen aber und Ungläubigen und Frevler und Mörder und Unzüchtigen und Zauberer und Götzendiener und alle Lügner, deren Teil wird in dem Pfuhl sein, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist der zweite Tod.
Ich ging zum Telefon und benachrichtigte die Polizei.
5. Kapitel
Es war schon spät, als ich endlich in Jesses Bett kroch. Die Polizei war bei mir vorbeigekommen, zwei uniformierte Beamte, die meine Aussage aufnahmen. Anschließend halfen mir Nikki und Carl sauberzumachen und Lukes Sachen in den Explorer zu laden. Carl, der als Baptist aufgewachsen war, erklärte mir, warum die Jesusfigur vom Kruzifix entfernt worden war.
»Für sie ist es ein Götzenbild, sie halten dich für eine Götzendienerin.«
Den Rest der Botschaft konnte ich selbst entschlüsseln.
Gegen 23 Uhr kam ich dann bei Jesse an. Er lebte am Butterfly Beach in Montecito, direkt hinter dem Haus hatte er die Berge und davor den Strand. Helles Holz und Glas dominierten sein Haus. Es gab hohe Decken, Holzböden,
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