Gottesdienst
Kunstfehlers zukommen lassen. Er hatte das nicht gut aufgenommen.
Ich rieb mir die Stirn. »Ich hab ihn nicht erkannt. Überhaupt nicht.«
»Du hast gesagt, der Mann sah krank aus.«
»Ja, aber Jorgensen … Als ich ihm die Vorladung zustellte, warf er mir alle nur erdenklichen Obszönitäten an den Kopf – und noch ein paar mehr. Wie konnte ich mit ihm durch ein Schaufenster kippen und es nicht bemerken?«
Ich dachte an das fiebrige Glühen seiner Augen und an Krankheiten, die das Aussehen eines Menschen entstellen konnten. Krebs oder Aids …
»Irgendwas ist hier faul«, sagte ich.
»Da wird er dir wahrscheinlich zustimmen, so als Betroffener.«
Ich warf ihm einen bösen Blick zu.
»Sorry, Ev. Ich weiß, dass du ihm helfen wolltest.«
Seine Reue galt mir und nicht dem verstorbenen Doktor. Dank seiner eigenen Geschichte hatte Jesse dem plötzlichen Unfalltod gegenüber eine extrem pragmatische Einstellung: So etwas kam eben vor. Trotzdem wunderte ich mich über die Schärfe seiner Bemerkung.
»Sein Verhalten war völlig rätselhaft«, sagte ich. Als ich ihn kennengelernt hatte, war ihm nur eine Sache wichtig gewesen: Geld. Er zog die Patienten über den Operationstisch wie Steaks durch eine Fleischsäge, um seine Porsches zu finanzieren. Ich hatte nie davon gehört, dass er auch nur entfernt religiös oder politisch engagiert gewesen wäre.
»Was hatte er beim Gottesdienst der Standhaften zu suchen?«
»Keine Ahnung.«
Genauso wenig wusste es die Journalistin, die den Artikel verfasst hatte, der aus wenig mehr als den offiziellen Verlautbarungen des Krankenhauses und der Polizei bestand. In der Vermutung, dass die Standhaften einen Kommentar zu Jorgensens Tod abgeben würden, schaltete ich den Computer an. Dann schenkte ich Jesse eine Tasse Kaffee ein und setzte mich an den Schreibtisch. Die Homepage baute sich auf.
Update! Schwuler stirbt nach Entweihungsversuch.
Ein Schwuler starb gestern bei dem Versuch, den Altarraum der Kirche der Standhaften zu zerstören. Sein Amoklauf wurde von beherzten Kirchenbesuchern gestoppt. Der Schwule flüchtete, nachdem sein Angriff misslang. Auf der Flucht vor den entsetzten Christen wurde er von einem Lastwagen überfahren.
WAS HATTE ER DENN ERWARTET?
»Darum, so wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: Weil du mein Heiligtum mit all deinen Götzen und Gräueln unrein gemacht hast, will auch ich dich zerschlagen.«
» Was für eine Überraschung, sie stürzen sich auf das Opfer«, sagte Jesse.
»Ja, ihre übliche Vorgehensweise.« Wir schauten uns an.
»Bloß ergibt das keinen Sinn, oder?«
Die Standhaften schienen erfreut, dass Jorgensen sein Ende gefunden hatte. Warum waren Chenille und Pete also so aufgeregt gewesen? Die Neuigkeit hatte sie in Unruhe versetzt, und diese Unruhe hatten sie in Tabithas Haus mitgebracht. Anscheinend hatten sie sich Tabithas Haus ganz angeeignet.
Diese Ungereimtheiten nagten fast den ganzen Tag an mir. Ich arbeitete in der Stadt in der Justizbibliothek, aber bei jeder Gelegenheit wurde ich abgelenkt: von den Münzen, die klingelnd in den Fotokopierer fielen, und von der Beklommenheit der anderen Anwälte im Raum. Schließlich beendete ich meine Arbeit und machte mich auf zum Gebäude der News-Press an der De la Guerra Plaza. Ich fragte nach Sally Shimada, der Verfasserin des Artikels über Jorgensens Tod. Ich brauchte Informationen, und ich hoffte sie von ihr zu bekommen oder sie wenigstens davon überzeugen zu können, sich selbst darum zu kümmern.
Shimada kam mit den langen Schritten einer Athletin in die Lobby geeilt. Sie war noch jung und verbreitete den Enthusiasmus einer College-Studentin. Mit ihrem weißen Rollkragenpullover und dem Paisley-Minirock gab sie sich offenbar Mühe, adrett auszusehen. Sie hatte glänzendes schwarzes Haar und kantige Gesichtszüge, die sie eher auffällig als hübsch wirken ließen. Ihr Händedruck war fest.
»Ich habe ein paar Neuigkeiten zu Neil Jorgensens Unfall, die Sie interessieren könnten«, sagte ich.
»Sie meinen, dass die Standhaften behaupten, er sei homosexuell gewesen?«
»Nein, was anderes. Einen Augenzeugenbericht.«
»Von wem?«
»Von mir.«
Ein eifriges Miss-Kalifornien-Lächeln brachte ihr Gesicht zum Strahlen. Die Kleine sollte besser niemals Poker spielen. »Kommen Sie bitte mit.«
Ich begann zu erzählen. An Shimadas Schreibtisch im Chaos der Redaktion beschrieb ich den Gottesdienst und versuchte etwas von der gespenstischen Atmosphäre und der Beunruhigung,
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