Gottesdienst

Aufmerksamkeit.
    Zärtlich sprach sie zu dem Leichnam. »Offenbarung, Kapitel 11. Die Rede war von dir. Dir fiel es zu, das gesamte Gewicht auf deinen Schultern zu tragen.«
    Ein Reporter hinter mir flüsterte: »Wovon redet die da überhaupt?«
    »Die große Bedrängnis«, murmelte eine Frau. »In der Offenbarung steht, dass Gott zwei Zeugen schickt, die weissagen sollen. Sie werden getötet werden, aber wieder auferstehen.«
    Das war Sally Shimada. Ich war beeindruckt.
    Chenille fuhr fort. »Der Tod ist nicht das Ende, ganz und gar nicht. Denn der Herr spricht: ›Wenn ihnen jemand Schaden tun will, muss er so getötet werden.‹«
    Eine Frau schrie »Amen«, eine andere »Gerechtigkeit für Pastor Pete!«. Innerlich zuckte ich zusammen, ich wusste, dass sie Brian damit meinten.
    »Gerechtigkeit? Die Gerechtigkeit wird kommen«, sagte Chenille. »Das steht schon in der Heiligen Schrift. ›Ihre Leichname lagen auf der Straße, aber dann fuhr in sie der Geist des Lebens von Gott, und sie stellten sich auf ihre Füße, und eine große Furcht fiel auf die, die sie sahen.‹«
    »Sie zitiert die Passage im völlig falschen Zusammenhang«, flüsterte Sally hinter mir.
    Chenille breitete die Arme aus. »Worüber habt ihr also alle zu heulen? Habt ihr nicht gehört, was ich gerade gesagt habe? ›Sie stellten sich‹«, und sie stampfte mit ihren Schuhen auf, »›auf ihre Füße‹!«
    Sie wandte sich wieder dem Sarg zu, bückte sich und starrte auf Wyomings geschlossene Augen. »Du bist nicht für die Gruft geschaffen. Dein Leib wird in keinem Grab eingesperrt werden.« Sie küsste ihn auf die Stirn. »Niemals.« Sie küsste seine beiden geschlossenen Augen. »Wir sind bereit und warten auf dich, Baby.«
    Dann küsste sie ihn auf die Lippen.
    Die Reporter hielten kollektiv die Luft an. Genau wie ich. Ich wusste nicht, ob ihre Ehe wirklich so unharmonisch verlaufen war und ob das jetzt überhaupt wichtig war. Wie auch immer es in ihrem Privatleben ausgesehen haben mochte – das hier war wirklich ein bemerkenswerter Auftritt.
    Chenille richtete sich auf. »Pete wurde von seinem Schicksal ereilt, aber er hat sich ihm gestellt wie ein Mann. Er ist geradeaus darauf zugegangen. Er hat sich nicht ausgeruht, und das dürfen wir auch nicht tun. Der Herr erwartet von uns, dass wir handeln. Ihr wollt eure Belohnung? Es ist an der Zeit, etwas dafür zu tun.«
    Sie holte tief Luft. »Der Sturm ist gekommen.«
    Die Energie, die durch den Raum schwappte, war fast greifbar. Shiloh sprang auf, riss die Arme in die Höhe und rief: »Lasst die Bibel sprechen!«
    Die Sargträger näherten sich der Bühne. Paxton senkte den Denkel auf den Sarg und warf dabei einen letzten Blick auf Wyoming. Für einen kurzen Moment schienen ihm die Gesichtszüge zu entgleisen, wie heißes Fett, das aus der Pfanne spritzt. Dann schloss er vorsichtig den Deckel und hob sich den Sarg zusammen mit den anderen Männern auf die Schultern. Sie trugen ihn nach draußen und schoben ihn auf die Ladefläche seines grünen Pickups. Chenille setzte sich zu dem Sarg auf die Ladefläche, und Paxton fuhr langsam an. Die Menschenmassen folgten dem Wagen.
    Und dann brach das Chaos aus.
    Einen Block von der Kirche der Standhaften entfernt befand sich ein Skateboardladen, der ihnen aufgrund seines
    Namens – The Church of Skatan – schon lange ein Dorn im Auge gewesen war. Als nun der grüne Pickup langsam vorbeifuhr, knallte ein Stein gegen die Backsteinfassade des Ladens. Darauf folgten Abfall aus dem Rinnstein, ein Stiefel und ein Majorettenstab, der schnell wieder eingesammelt wurde. Als dann als Nächstes Eier flogen, wurde klar, dass die Aktion vorbereitet gewesen war. Der Ladenbetreiber schloss die Tür und bat die Leute, sich zu beruhigen, musste sich jedoch ducken, als ein Backstein auf ihn zuschoss. Die Schaufensterscheibe zersprang in tausend Stücke. Männer sprangen ins Schaufenster und begannen die ausgestellte Ware zu zertrümmern. Skateboards landeten auf der Straße. Der Betreiber flehte sie an, damit aufzuhören. Dann wurde auch er aus dem Fenster geworfen. Chenille zog mit starr geradeaus gerichtetem Blick auf der Ladefläche von Paxtons Wagen vorüber, wie eine Madonna, die bei einer Prozession durch die Straßen getragen wird.
    Ich hielt mich bei den Journalisten. Der Fernsehreporter und sein Kamerateam hatten sich der Menge angeschlossen. Sally Shimada rannte hinter ihnen her und sprach einen Kommentar der Ereignisse in ihr Diktiergerät. Der Pickup