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Gottesdienst

Titel: Gottesdienst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Gardiner
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diesen Morgen klarer, immer noch rotstichig, aber nicht mehr ganz so rauchgeschwängert. Die Hitze und der Wind hatten nachgelassen, was es den Waldbehörden ermöglichte, den Brand unter Kontrolle zu halten. Nach dem Frühstück brachten Luke und ich meinen Wagen in die Werkstatt, damit die Obszönitäten unter einer neuen Lackschicht verschwanden. Wir nahmen uns einen Mietwagen und fuhren in Jesses Kanzlei, wo ich mich mit einem Familienrechtsanwalt traf. Sein Name war Solis, ein Mann wie ein Schrank mit einer spiegelblanken Glatze. Während Luke in Jesses Zimmer war, sprach ich mit Solis über die Möglichkeit einer einstweiligen Verfügung gegen Tabitha. Er fragte mich, ob ich mir schon Gedanken über die langfristige Regelung des Sorgerechts gemacht hätte.
    »Sie meinen, falls Tabitha das Besuchsrecht erhält?«
    »Ja«, sagte er gedehnt. »Und falls sich Ihr Bruder nicht mehr in der Position befindet, dass Luke bei ihm leben kann.«
    Ich spürte, wie ich rot wurde. »Sie meinen, wenn sein Fall vor Gericht kommt -«
    »Und darüber hinaus. Wenn er schuldig gesprochen wird, könnte das Ganze für Sie sehr kompliziert werden.«
    »Die haben den Falschen verhaftet«, sagte ich. »Brian wird freigesprochen.«
    »Das wäre natürlich der Optimalfall. Aber ich habe mich im Fall Ihres Bruders kundig gemacht und -«
    »Sie haben mit Jesse gesprochen?«
    »Ja, er hat mich in den Fall eingeweiht.«
    Er sprach weiter, aber ich war in Gedanken längst woanders. Ich tobte innerlich vor Wut. Jesse hatte ihm erzählt, dass Brian schuldig war.
    Zurück in Jesses Büro, fragte er mich: »Hast du schon was fürs Mittagessen geplant? Ich dachte, wir könnten Luke vielleicht -«
    »Ja, hab ich schon. Vielleicht kannst du dich um Luke kümmern.«
    »Sicher.« Er schaute mich verständnislos an. »Lief alles gut mit Solis?«
    Er legte den Kopf schief in der Hoffnung, dass ich ihm meine schlechte Laune erklären würde. Doch ich tat nichts dergleichen. »Ich gehe zu Peter Wyomings Beerdigung.«
    »Deswegen bist du so angespannt?«
    »Mir geht’s gut.« Ich hätte sein Gesicht an den Schreibtisch tackern können.
    »Evan?«
    Wäre ich so alt wie Luke, hätte ich die Angelegenheit schnell gelöst und ihm einfach einen Buntstift ins Gesicht gerammt. Aber aus dem Alter war ich raus, ich schleppte meine Probleme mit mir herum wie ein Stück Klopapier, das einem am Schuh klebt, wenn man aus einer öffentlichen Toilette kommt.
    »Nichts. Bis später.«
     
    Als ich ankam, war die Kirche der Standhaften bereits gut gefüllt. Durch das Schaufenster konnte ich den Chor auf der Bühne und die Majoretten erkennen, die schwarze Gymnastikanzüge mit Fransen und kleine schwarze Schleier vor den Gesichtern trugen. Das große Fenster, durch das ich mit Dr. Neil Jorgensen gestürzt war, hatte man zugenagelt. Darüber war ein Poster zu sehen, ein gezeichnetes Porträt von Pastor Pete, das eindeutig von Tabitha stammte. Es war eine ihrer besten Zeichnungen, Wyoming wirkte darauf richtig edelmütig. Unten am Poster hatte jemand mit der Hand ein Bibelzitat hinzugefügt: Getötet um des Wortes Gottes und um seines Zeugnisses willen. Die saubere Handschrift passte nicht zu den Beschimpfungen auf meinem Explorer. Wahrscheinlich hatte Shiloh den Spruch hingemalt.
    Ich hatte mich unauffällig angezogen: schwarzes Kleid, Sonnenbrille und ein Hut. Vor der Tür hielten Männer Wache, die jeden Neuankömmling musterten. Ich blieb im Hintergrund, wartete bis die Musik anfing und folgte ihnen dann nach drinnen.
    Mittlerweile war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Ich erkannte ein paar Journalisten, auch Sally Shimada und ein Fernsehteam. Viele trugen Schwarz, aber in der Menge fanden sich auch mehr Karohemden und Tarnkleidung, als ich es jemals auf einer Beerdigung gesehen hatte. Die Atmosphäre war rau. Ich hatte bereits Beerdigungen von unerwartet Verstorbenen oder Opfern eines Gewaltverbrechens miterlebt, und deshalb war ich vorbereitet auf Menschen im Schockzustand, auf die unterdrückte Hysterie und die unerträgliche Niedergeschlagenheit, die sich in der Kapelle der Standhaften breitgemacht hatte. Allerdings nicht in diesem Maße – man konnte es fast körperlich spüren. Und dann lag da noch etwas anderes in der Luft, nicht nur Entrüstung, sondern auch eine gespannte Erwartung. Ganz vorne stand der offene Sarg.
    Das war die erste Überraschung: Dass der Bestatter genug von der Leiche retten konnte, um sie im offenen Sarg auszustellen. Das Feuer

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