Gottesdienst
den Standhaften gibt es … verschiedene Ebenen, verschiedene Gruppierungen. Eine davon steht Chenille besonders nahe. Die sind hart drauf …«
»Was meinst du mit hart drauf?«, fragte Jesse.
»Chenille hat einen harten Kern um sich geschart, eine Gruppe von ihr völlig ergebenen fanatischen Anhängern.« Sie blickte sich auf dem Parkplatz um. Nichts war zu sehen außer dem Meer und den Sternen. Trotzdem wirkte sie verängstigt.
»Mann, das ist echt schwer für mich.«
Sie durfte jetzt nicht aufhören zu reden. »Das ist okay, ich hab auch Angst.«
Sie warf den Kopf herum. »Sagen Sie das nicht. Ich dachte, Sie wären die einzige Person, die keine Angst hat.«
»Warum das?«
»Sie sind die Einzige, die Chenille jemals die Stirn geboten hat.«
Ihre Aussage verblüffte mich. Dass ich in ihren Augen so groß dastand, verursachte mir Unbehagen.
Sie zog ihr Kopftuch ab. »Sie müssen verstehen, die Standhaften haben mir das Leben gerettet. Ohne Scheiß, wenn mich Chenille nicht aus dieser schlimmen Situation gerettet hätte, wäre ich jetzt tot. Und sie hat mich an einen Ort gebracht, der sauber war und wahrhaftig, und wo ich jemand bin. Ich. Bei den Standhaften bin ich jemand.«
Ich spürte, dass sie jetzt meine Unterstützung brauchte. »Aber die Dinge haben sich geändert?«
Sie starrte auf den dunklen Ozean. »Als ich zu den Standhaften kam, sagte Chenille, dass mein Leben der Herrlichkeit gewidmet sein sollte. Deshalb gab sie mir diesen Namen. Glory ist nicht mein richtiger Name. Aber dann hat sie mich hierhergeschickt, damit ich einen Job als Reinigungskraft annehme.«
»Sie lässt dich als Putzfrau arbeiten?«
»Sie sagte, das würde mich Demut lehren. Als ob ich vor meiner Errettung nicht schon genug Demut gelernt hätte, als ich auf irgendwelchen Rücksitzen für Drogen die Beine breitgemacht habe.«
Sie musterte mich prüfend von der Seite, ob sie mich mit ihren Worten schockiert hatte. Ich legte ihr die Hand auf die Schulter.
Jetzt mischte sich Erregung in ihre Stimme. »Sie hat natürlich keinen Job angenommen, der ihr Demut beibrachte. Sie hat sich selbst zur Solosängerin im Chor bestimmt. Mir aber hat sie die Stellenanzeige unter die Nase gehalten und befohlen, dass ich mich darauf melden soll. Wissen Sie was? Ich hab’ne Menge schmutziges Zeug gemacht, bevor ich errettet wurde, aber selbst als ich auf der Straße lebte, habe ich nie gedacht, wow, wenn ich mal hier rauskomme, dann besorge ich mir mal einen tollen Hilfsarbeiterjob. Ich bin immer in die Bücherei gegangen, und so hab ich auch Science-Fiction entdeckt. Ich habe Orson Scott Card und Octavia Butler gelesen, das war echt toll, und Connie Willis …«
»Die Jahre des schwarzen Todes«, ergänzte ich.
»Genau! Ich hab mir immer gewünscht, dass ich durch die Zeit reisen könnte …« Sie verstummte. »Aber seitdem habe ich rausgefunden, dass die Zukunft viel schlimmer ist, als man in Science-Fiction-Romanen lesen kann.«
Jesse trommelte mit den Fingern auf sein Knie. Ein deutliches Signal an mich, dass er sich kaum noch davon abhalten konnte, in Hohngelächter auszubrechen
»Ich hab Ihr Buch geliebt, Evan. Aber dann musste ich immer daran denken, dass es nicht den biblischen Vorgaben entspricht, und dann habe ich mich so schmutzig gefühlt …«
»Wissensdurst – ein Laster, das verheimlicht werden muss«, ätzte Jesse.
»Die Wissbegier ist schuld am Sündenfall. Als Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis aß …«
»Und deine Kirche tut ihr Möglichstes, sämtliches Wissen, das wir seither angesammelt haben, auszulöschen. Ihr zündet Buchläden an.«
Es war ein Fehler, dass ich ihn mitgenommen hatte. Sein Zorn war gerechtfertigt, aber wenn er so weitermachte, war das Treffen in neunzig Sekunden beendet. »Jesse, bitte …«
»Bildung ist nicht das höchste Gut«, sagte Glory. »Wahrheit und Glaube sind wichtiger.«
»Ja, und Unwissenheit ist ein Segen«, fügte Jesse hinzu.
»Wissen Sie, wenn Sie an Gott glauben würden, dann könnten Sie auch laufen.«
Scheiße. Jetzt war es passiert.
Er nickte völlig übertrieben, als wäre ihm soeben die Erkenntnis seines Lebens zuteilgeworden . »Ahh! Ich verstehe. Und was noch?« Sie warf ihm einen schiefen Blick zu. Er fuhr fort: »Was wäre sonst noch meine Belohnung, wenn ich an Gott glauben würde? Wie wär’s mit unglaublicher sexueller Potenz oder, sagen wir, einem Privatjet? Darf ich eine Liste machen?«
»Stopp!«
Beide schauten mich an.
»Ich habe mal eine
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