Gottesgericht
bezweifelte, dass die Leute, die es jetzt bewohnten, etwas von den Ereignissen jener Zeit wussten. Dennoch gefiel ihr die Idee nicht, dass ihre Kinder auch nur in der Nähe dieses Orts waren.
Sie sah auf die Küchenuhr und schätzte, dass Debbie und die Kinder wahrscheinlich schon auf dem Weg zu ihrem Ziel waren. Bei einem erneuten Blick auf die Karte fiel ihr ein weiteres Kreuz auf einer der kleineren Straßen rund um den Landsitz auf. Debbie hatte einen Pfeil von dort zum unteren Rand der Karte gezogen und »Eingang zum Getreidespeicher« daneben geschrieben.
Schon rannte Jane in ihre eigene Küche zurück, um ihr Handy zu holen. Sie blickte sich um, konnte es aber nirgendwo entdecken. Und doch wusste sie, dass sie es irgendwo hier liegen gelassen hatte. Die wachsende Angst verringerte ihre Konzentrationsfähigkeit. Sie holte tief Luft und ging systematisch durch die Küche. Das Handy lag auf der Arbeitsfläche neben dem Kühlschrank. Sie hob es auf und drückte mit zittrigen Fingern Debbies Nummer. Der Anruf ging direkt auf die Mailbox.
Jane hätte vor Frust am liebsten geschrien, aber sie nahm sich zusammen, um eine verständliche Nachricht zu hinterlassen – und eine, die Debbie nicht zu Tode erschrecken würde. »Hör genau zu, Debbie«, sagte sie unaufgeregt. »Wenn du noch auf dem Weg zu dem Fest bist, dann kehr sofort um. Wenn du schon dort bist, brich sofort auf. Du brauchst niemandem etwas zu sagen, aber es ist wichtig, dass du tust, was ich sage.«
Nachdem sie noch eine SMS mit ähnlichem Inhalt abgeschickt hatte, setzte sie sich kurz, um nachzudenken. Wahrscheinlich reagierte sie übertrieben. Aber egal wie es mit Cullenswood House aussehen mochte, der auffällige, kegelförmige Turm auf dem Anwesen, der als Getreidespeicher bekannt war, war tabu, was Jane anging. Denn in diesem Gebäude war sie von Michael Roberts gefangen gehalten und beinahe getötet worden, und dort war Roberts von der Polizei erschossen worden.
Debbie wusste natürlich, was passiert war, aber es lag zu weit zurück, als dass ihr die genauen Einzelheiten noch erinnerlich waren. Und etwa zu dieser Zeit hatte sie Karl kennengelernt, und ihre frische Beziehung hatte einen wesentlichen Teil ihrer Aufmerksamkeit in Anspruch genommen.
Jane konnte nachvollziehen, dass man auf die Idee kam, den Turm aus dem 18. Jahrhundert zum Mittelpunkt eines Kinderfests zu machen. Es machte den Kleinen sicher Spaß, um ihn herum zu spielen, und unter angemessener Aufsicht konnten sie sich die steinerne Treppe rauf- und runterjagen, die sich spiralförmig außen um das Gebäude herumwand. Vielleicht durften sie sogar das Innere erkunden. Sie schauderte bei dem Gedanken, dass ihre Kinder dort drinnen umherspazierten.
Und dann machte sich langsam ein düsterer Verdacht bemerkbar. Sie stand auf und lief unruhig hin und her. Es war ihr von Anfang an komisch vorgekommen, dass sich jemand, der sich einen Wohnsitz wie Cullenswood House leisten konnte, einem Netzwerk von normalen Mittelschichtmüttern anschloss. Sie fragte sich auch, ob Debbie bei einer der anderen Mütter nachgefragt hatte, ob sie ebenfalls hinfuhren. Und wer war dieses neue Mitglied ihres Clubs überhaupt?
Bitte melde dich, Debbie, flehte sie lautlos, während sie nervös auf und ab marschierte und ihr Handy umklammert hielt. Es sah ihrer Freundin gar nicht ähnlich, das Gerät abzuschalten. Wahrscheinlich waren sie in einer Gegend mit schlechtem Empfang. Als ihr Handy dann plötzlich läutete, erschrak sie so sehr, dass sie es beinahe fallen ließ.
»Debbie«, sagte sie erleichtert, als sie das Foto ihrer Schwägerin auf dem Display sah.
»Was ist los?«
»Wo bist du?«
»Ich fahre gerade auf einer kleinen Landstraße auf einen merkwürdig geformten Turm zu. Er heißt, der ›Getreidespeicher‹«.
»Verdammt, Debbie, ich sagte doch, du sollst nicht zu dieser Scheißparty fahren.« Sie hätte eine dringlichere Botschaft hinterlassen sollen.
»Hey, Jane hat zwei schlimme Worte gesagt«, kam eine tadelnde Stimme vom Rücksitz des Wagens. Debbie hatte eine Freisprechanlage.
»Tut mir leid, Karen«, sagte Jane. »Aber ich bin ein bisschen wütend auf deine Mommy.«
»Hey, ich habe deine Nachricht eben erst gehört, und ich bin auf halber Strecke in einer sehr schmalen Zufahrt. Sobald ich dort bin, kehre ich um, okay?«
Jane hörte ihr an, dass sie gereizt war. »Tut mir leid, dass ich euch den Spaß verderbe, Debbie, aber …« Da die Kinder zuhörten, musste sie ihre Worte
Weitere Kostenlose Bücher