Gottesgericht
seinen Schlüssel schluckte, anstatt ihn auszuhändigen. Der Anführer der Bande, der für seine Bösartigkeit und Blutrünstigkeit berüchtigt war, öffnete Jovan Buas Unterleib, um ihm den Schlüssel aus dem Magen zu holen, nur um zu entdecken, dass der Mann keinerlei innere Organe besaß. Worauf Jovan den Schlüssel unter seiner Zunge hervorholte und dem Banditen ins Gesicht lachte. Der Bandit fiel auf der Stelle tot um, da ihm klar wurde, dass er einem der wandelnden Toten begegnet war.
In einer abergläubischen Gegend wie der Basilikata waren Geschichten wie diese ein zusätzliches Abschreckungsmittel für Möchtegerndiebe.
Aber jetzt gab es keinen nächsten Angehörigen, an den man den Bua-Schlüssel weitergeben konnte, deshalb hatte ihn Pfarrer Kamarda an sich genommen, bis eine Dorfversammlung entscheiden würde, was zu tun sei. Vielleicht sollte er vorschlagen, eine Alarmanlage zu installieren, dachte er und lächelte über seinen trockenen Humor.
In diesem Moment kam eine junge Frau über die Straße, und ihr Rock rauschte hörbar, als sie an ihm vorbeiging, um sich zu einem Mann an einen der Tische zu setzen. Kamarda genoss die Vorstellung, wie der Stoff an ihre Glieder strich, und verstärkte sie, indem er ihr Parfüm einatmete, das für einige wonnige Augenblicke in der Luft hing.
Tatsächlich hatte er den Schlüssel von Enzo Bua selbst bekommen, an dem Abend, bevor der arme Mann versucht hatte, die sterblichen Überreste seiner Tochter vom Friedhof in Sant’Elia zu holen. Er war mit einem Bündel Briefe in einem Gummiband im Pfarrhaus aufgekreuzt, und unter ihnen war ein Kuvert mit dem Schlüssel.
»Enzo hat dauernd davon geredet, dass er Briefe von einem Kunsthändler in Neapel erhielt«, hatte Pfarrer Kamarda zu Rinaldi gesagt, als er die zweite Tür geöffnet hatte. »Er sagte, sie würden anfragen, ob die Ikone verkäuflich sei.«
Rinaldi hatte geantwortet, das überrasche ihn nicht. Kunsthändler und Museen würden ständig solche Briefe verschicken. Sie versuchten es aufs Geratewohl – die Hoffnung auf einen Glückstreffer, weil eine Familie ein Artefakt verkaufen musste, um Schulden zu begleichen, oder weil ein Kloster aufgelöst oder eine Kirche geschlossen wurde und Möbel und Sakralgegenstände deshalb auf den Markt kamen. Und in der Basilikata bestand immer die Chance, eine Statue oder Ikone zu finden, die mit den Einsiedlern zu tun hatte, die früher die Höhlen bewohnten.
Die Frage, die Kamarda von Rinaldi erwartet hatte, war, wieso der Kunsthändler überhaupt mit Enzo Bua korrespondiert hatte. Immerhin war das geschehen, bevor die Umstände seines Todes für so viel öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt hatten. Aber Rinaldi stellte die Frage nicht, da er in diesem Moment davon abgelenkt wurde, dass sie die Krypta betraten. Nicht dass Kamarda seine Frage zu diesem Zeitpunkt hätte beantworten können, denn er hatte die Korrespondenz erst noch lesen müssen. Auch war er nicht dazu gekommen, Rinaldi zu erzählen, was Bua an jenem Abend noch gesagt hatte: »Die Geier sammeln sich, Hochwürden. Sie müssen wissen, dass die letzten Tage angebrochen sind. Meine Tochter wurde geraubt, und außer mir ist niemand übrig, um die Ikone zu bewachen. Und das können nur die Toten tun.«
Pfarrer Kamarda hatte ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Neugier betrachtet. Enzo Bua war nicht der Mann, der plötzlich wie ein biblischer Prophet sprach. Das einzig Exzentrische an ihm war, dass er hartnäckig Hüte trug, die immer zu klein für seinen Kopf wirkten.
»Reißen Sie sich zusammen, Enzo«, hatte er schließlich erwidert. »Immerhin sind es die Lebenden wie wir, die in Wirklichkeit die Ikone bewachen. Der Grund, warum Sie und Ihre Vorfahren am letzten Tag glorreich auferstehen werden, ist nicht nur der Dienst, den Sie im Tod geleistet haben, sondern auch – und wichtiger noch – in Ihrem Leben.« Obwohl er die Tradition rund um die Ikone verabscheute, war dies nicht der Moment gewesen, sie schlechtzumachen. Bua litt sichtlich unter einem seelischen Kummer.
»Ich dachte, ich hätte eine irdische Belohnung verdient, Hochwürden. Deshalb werde ich nicht auferstehen wie die andern«, hatte Bua gesagt und den beinahe zahnlosen Mund zu einem gequälten Grinsen verzogen. »Also spielt es jetzt keine Rolle mehr.« Dann hatte er in nüchternerem Tonfall angefügt: »Wenn Shpresa mit mir zurückkommt, müssen Sie mir helfen, die Krypta für sie zu öffnen. Wenn nicht, müssen Sie sie für mich
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